In diesem Land ist der Hunger drastisch zurückgekehrt
Brasilien - In einer schäbigen Hütte in der kargen Landschaft des brasilianischen Sertao öffnet Maria da Silva ihren leeren Kühlschrank und beginnt zu schluchzen, weil sie ihre Familie nicht mehr ernähren kann.
Wie Maria da Silva leiden derzeit mehr als 33 Millionen Menschen in Brasilien Hunger, ein Anstieg um 73 Prozent im Vergleich zu 2020, wie aus einem Bericht des brasilianischen Netzwerks Ernährungssicherheit (Rede Penssan) vom Juni hervorgeht. Diese erschreckenden Zahlen überschatten auch die Präsidentschaftswahl am Sonntag in Brasilien.
Durch den Tod ihres Bruders durch das Coronavirus im vergangenen Jahr hat die 58-jährige Witwe Maria da Silva auch eine wesentliche Einkommensquelle verloren - und ihr ausgezehrtes Gesicht verrät die Belastung, allein ihre Familie durchbringen zu müssen. "Manchmal wollen (die Kinder) essen, und ich habe noch nicht mal einen Keks oder Brot für sie", klagt Maria da Silva, während ihr Tränen über die Wangen laufen.
In ihren vier Wänden in Poço do Cruz, im nordöstlichen Pernambuco, gibt es weder Strom noch Wasser, die Decke bröckelt und die Betten sind nur mit Stofffetzen vom Hauptraum getrennt. Hier lebt ihre siebenköpfige Familie, darunter Marias Enkel, die eins, zwei und drei Jahre alt sind.
"Ich bete zu Gott, dass er meinem Leiden ein Ende bereitet", sagt sie resigniert. Durch den Anstieg der Lebensmittelpreise kann die Familie nicht mehr vom Lohn der landwirtschaftlichen Arbeit leben, sondern muss betteln gehen.
Brasilien steht wieder auf der Hungerkarte des WFP
Dass Hunger und Betteln wieder verbreitet sind in Brasilien, wurde auch im Wahlkampf breit diskutiert. Der Kandidat der Linken, Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, attackiert deswegen regelmäßig seinen Gegenspieler, den rechtsextremen Staatschef Jair Bolsonaro.
Brasilien ist 2021 wieder auf der Hungerkarte des Welternährungsprogramms (WFP) aufgetaucht, weil rund 29 Prozent der Bevölkerung in "mittlerer oder schwerer Ernährungsunsicherheit" leben.
Das ist ein schwerer Rückschlag für die größte Wirtschaftsmacht Lateinamerikas, denn erst 2014 war es von der Hungerkarte verschwunden, nachdem in der Regierungszeit Lulas ein Wirtschaftsboom und massive Sozialprogramme 30 Millionen Menschen aus der Armut geholfen hatten.
Um einkommensschwache Wählerschichten auf seine Seite zu ziehen, hat Präsident Bolsonaro bestehende Sozialprogramme verändert, teilweise die Sozialhilfe erhöht, und er machte gezielt Wahlkampf im ärmeren Nordosten, wo ein Viertel der 213 Millionen Einwohner lebt.
Inflation wurde auch durch die Corona-Krise angetrieben
Auch für den Rentner Joao Alfredo de Souza aus Conceiçao de Crioulas sind die Zeiten "sehr hart". Er verweist vor allem auf die Coronavirus-Pandemie, in der mehr als 680.000 Menschen gestorben sind und durch die die Inflation angetrieben wurde.
Seiner Ansicht nach hat die Erhöhung der Hilfen Bolsonaro im Nordosten Stimmengewinne eingebracht. "Warum hat er das erst jetzt gemacht? Das ist eine Schande", schimpft er. Lula dagegen, der aus Pernambuco stammt, verstehe den Nordosten, wo er in Umfragen weiter vorne liegt.
Eine halbe Stunde von de Souzas Dorf entfernt liegt Regiao de Queimadas, eine Siedlung traditioneller Lehmhäuser.
Dort ist eine Gruppe von Beamten der Nationalen Gesundheitsstiftung (Funasa) in Geländewagen unterwegs, um die Anwohner nach ihren Lebensbedingungen zu fragen, etwa ob sie ein Badezimmer haben. "Hier ist das Afrika Brasiliens", sagt einer der Beamten, was Edineia de Souza, der Chefin eines örtlichen Bauernverbandes, nicht gefällt. "Diese Typen kommen eh nur, wenn gewählt wird", murmelt sie.
"Wir warten noch auf die Badezimmer vom letzten Mal."
Titelfoto: Victor R. Caivano/AP/dpa