G20-Schande! Russland zerbombt die Ukraine, doch Scholz redet sich die Dinge schön
Neu-Delhi (Indien) - Es gehört zu den Ritualen internationaler Gipfel, dass die Ergebnisse von den Teilnehmern am Ende als Erfolg verkauft werden - mögen sie noch so dünn sein. Bundeskanzler Olaf Scholz (65, SPD) beherrscht diese Disziplin besonders gut.
In seiner kurzen Pressekonferenz zusammen mit Finanzminister Christian Lindner (44, FDP) auf dem G20-Gipfel in Neu-Delhi sagt er am Samstagabend zehnmal "erfolgreich" oder "Erfolg". Als wenn er ihn herbeireden wollte.
Kurz zuvor hat die Staatengruppe der führenden Wirtschaftsmächte etwas erreicht, das viele zwischenzeitlich schon fast abgeschrieben hatten: Eine Gipfelerklärung aller 20 Mitglieder. Darunter die USA, Deutschland, Japan oder Frankreich. Aber eben auch China und Russland, deren höchste Vertreter abwesend waren.
Dass die Verhandlungen über das Abschlussdokument in die Nähe des Scheiterns gerieten, liegt an einer einzigen Frage: Mit welchen Worten beschreibt man das, was seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine passiert.
Ob man nun Krieg "in" der Ukraine oder "gegen" die Ukraine sagt, ist dabei schon von höchster Brisanz.
Ringen um einzelne Wörter
Mit solchen Feinheiten haben sich die Unterhändler der Staats- und Regierungschefs - die sogenannten Sherpas - schon Wochen vor dem Gipfel befasst, und in der heißen Phase in Neu-Delhi Tag und Nacht.
Beim Gipfel auf der indonesischen Insel Bali 2022 wurde der russische Angriffskrieg noch in der Erklärung von "den meisten" Staaten klar verurteilt. Und Russland stimmte auf Druck Chinas zu, der für den daheimgebliebenen Kremlchef, Wladimir Putin (70), verhandelnde Außenminister Sergej Lawrow (73) reiste bereits am ersten Gipfeltag vorzeitig ab.
Die G20 habe Russland mithilfe Chinas isoliert, jubelte der Westen. Doch das ist mehr als ein Jahr her.
Diesmal wollten China und Russland sich diese Blöße nicht mehr geben. Das Ergebnis ist ein Formelkompromiss - also eine Einigung, bei der der eigentliche Konflikt ungelöst bleibt und jeder behaupten kann, sich durchgesetzt zu haben. Es wird nur noch auf Resolutionen der Vereinten Nationen zur Verurteilung des Angriffskriegs verwiesen. Außerdem enthält die Erklärung ein Bekenntnis zur "territorialen Integrität" aller Staaten, also ganz allgemein zur Unverletzbarkeit von Grenzen.
Aus westlicher Sicht kommt das einer Verurteilung der russischen Invasion in die Ukraine durch die Hintertür gleich. Aber auch Russland kann damit leben, weil es die ukrainische Halbinsel Krim und die besetzten Gebiete in der Ostukraine als sein Staatsgebiet betrachtet. Und obendrein kann China damit seinen Anspruch auf Taiwan begründen, das es als Teil der Volksrepublik ansieht.
Jeder hat also seine eigene Lesart - und kann sie als Erfolg verkaufen. So wie Scholz feiert folglich auch die russische Seite die Erklärung. Unterhändlerin Swetlana Lukasch spricht von einem "ausgewogenen" Kompromiss.
Und für Außenminister Lawrow, der auch in Indien Putin vertritt, gibt es keinen Grund mehr, den Gipfel vorzeitig zu verlassen. Dass er zurück auf der Bildfläche im Kreis der G20 ist, dürfte ihm zudem eine Genugtuung sein.
Warum macht der Westen das mit?
Stellt sich die Frage, warum der Westen der Delhi-Erklärung zugestimmt hat. Als ein ganz konkreter Grund gelten die Bemühungen, Russland zu einer Rückkehr in das Abkommen für den Transport von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer zu drängen - oder zumindest dafür zu sorgen, dass Moskau für seine Nicht-Rückkehr nicht den Westen verantwortlich machen kann.
Die Vereinbarung hatte es seit ihrem Abschluss ermöglicht, trotz des russischen Angriffskriegs fast 33 Millionen Tonnen Getreide und Lebensmittel aus der Ukraine über das Schwarze Meer zu exportieren. Selbst während des Krieges blieb die Ukraine damit der größte Weizenlieferant des für arme Länder so wichtigen Welternährungsprogramms.
Konfrontiert mit Kritik an den Zugeständnissen an Russland stellt ein westlicher Verhandlungsteilnehmer zudem die Frage, wie die Schlagzeilen gelautet hätten, wenn es in diesem Jahr erstmals keine gemeinsame G20-Erklärung gegeben hätte. "Das Ende der G20", "Todesstoß für die G20", "Schluss mit Kooperation", gibt er selbst die Antwort.
Der Kompromiss ermögliche es, die Plattform am Leben zu halten und zu verhindern, dass sie vollständig durch "Blöcke" wie die westliche G7-Gruppe und die Gruppe der Brics-Staaten um China und Russland ersetzt werde.
Erwartet wird nun, dass zum nächsten Gipfel 2024 in Brasilien auch wieder der chinesische Staatschef, Xi Jinping (70) anreist. Der hat sich in Neu-Delhi wie Putin vertreten lassen.
Gerade für Deutschland und die EU geht es derzeit geopolitisch um viel. Die Europäer wissen, dass sie im Kampf gegen den Klimawandel oder bei der Rohstoffversorgung auf Länder wie China, Indien und Brasilien angewiesen sind.
Ganz zu schweigen von der Bedeutung, die diese Länder als Absatzmärkte für die heimische Exportwirtschaft spielen.
Verliererin ist die von Russland angegriffene Ukraine
Am Ende hat sich die G20-Gruppe in Neu-Delhi mit dem Arrangement mit Russland gerade noch einmal über die Runden gerettet. Verliererin ist die von Russland angegriffene Ukraine. Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj (45), wurde diesmal nicht per Video zugeschaltet. Anders als 2022, wo ihm auf Bali eine große Bühne geboten wurde, um den Abzug russischer Truppen zu fordern.
"Die G20 hat nichts, worauf sie stolz sein kann", lautet die Gipfelbilanz des Sprechers des Außenministeriums in Kiew, Oleh Nikolenko. Im sozialen Netzwerk X veröffentlicht er in roter Farbe markierte Korrekturen von Passagen der Abschlusserklärung, wie sie aus Sicht der Ukraine aussehen sollten.
So sollte laut Nikolenko etwa in dem Text nicht von einem "Krieg in der Ukraine" die Rede sein, sondern klar von "Russlands Aggressionskrieg gegen die Ukraine".
So oder so: Am Kriegsgeschehen in der Ukraine ändern die Formulierungen in der Erklärung von Neu-Delhi ohnehin rein gar nichts. Wie dieser Krieg beendet werden kann, wurde auf dem G20-Gipfel nicht besprochen.
Titelfoto: Kay Nietfeld/dpa