Sorgen diese Neulinge bei Europa- und Kommunalwahl für ein Polit-Beben?
Berlin - Das Vertrauen in die etablierten Parteien ist in der gesellschaftlichen Mitte zuletzt deutlich gesunken, berichtet eine aktuelle Untersuchung der Bertelsmann Stiftung. Besonders die Menschen mit mittleren Einkommen spüren einerseits einen großen Veränderungsdruck. Andererseits haben sie nicht das Gefühl, dass die Berliner Ampel-Regierung die Weichen dafür richtig stellt.
Was bedeutet das für die Kommunal- und Europawahl am 9. Juni? Neue Parteien, Bündnisse und Sammelbewegungen machen sich jetzt große Hoffnungen.
Die Politik-Forscher aus Gütersloh sind sich nach mehreren repräsentativen Umfragen einig: Weder SPD, Grüne und FDP noch CDU und CSU gelingt es derzeit, "in der Mitte den Eindruck von Empathie, Problemlösungsfähigkeit und Zugewandtheit zu hinterlassen, um ihre Wählerschaft gegen populistische Verführung und Mobilisierung zu immunisieren".
Der Optimismus im Land schwindet auch: Bei einer Online-Befragung im Januar 2024 erklärten 56 Prozent der deutschen Bevölkerung, die Meinungsforscher der gesellschaftlichen Mitte zuordnen, dass sie eher optimistisch in die Zukunft schauen. Zum Vergleich: Im Mai 2022 äußerten sich noch 66 Prozent so.
Das Forscher-Fazit: die deutsche Mittelschicht ist anfälliger geworden für Populismus. Die Ränder der ohnehin polarisierten Gesellschaft werden stärker. Eine ausufernde Bürokratie und der bestehende Innovationsstau im Land befeuern den Trend.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Wellen bei Themen wie Klimawandel, Zuwanderung sowie Krieg und Frieden hochschlagen und neue politische Player genau dort ansetzen, um daraus für sich gesellschaftliches Kapital zu schlagen, damit sie neue Leitplanken setzen können.
Verändern diese neuen Parteien unsere Politik?
Bei den anstehenden Wahlen im Juni und am 1. September (Landtag) werden die etablierten Parteien nun auf breiter Front angegriffen.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das Bündnis Deutschland, die Freien Sachsen, die Wählervereinigung Konservative Mitte, das "Team Zastrow/Bündnis Sachsen 24", die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), die Basisdemokratische Partei Deutschland (dieBasis), Volt Deutschland, die Werteunion sowie verschiedene regionale Wählergemeinschaften wie etwa die "Wahlplattform Dissident:innen Dresden" stehen in den Startlöchern, um neuen Wind in die Parlamente zu bringen.
Die machthungrigen Newcomer haben dafür in den vergangenen Wochen viel Mühe und Energie investiert. Sie mussten Unterstützer suchen, finden und an sich binden. Die Kandidaten, die sie jetzt ins Rennen schicken, stammen aus allen Teilen der Gesellschaft.
Viele kommen aus der aufblühenden Demokratie-Bewegung. Aber auch vom rechtskonservativen Rand. Auffällig: Nicht wenige haben sich von alten Volksparteien abgewandt und wollen als Parteilose noch einmal Neues gestalten.
Die ehemalige Linken-Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann (63) organisierte für BSW in Sachsen diesen "Vor-Wahlkampf". Sie verkündet stolz, dass das Bündnis Bewerber in allen großen Kommunen aufgestellt hat. Außerdem wird es bei allen Kreistagswahlen (außer in Nordsachsen) vertreten sein. Zimmermann: "Das ist ein Kraftakt gewesen. Aber es hat sich gelohnt. Die kommunale Ebene ist für uns sehr wichtig, denn wir wollen etwas von Grund auf verändern in diesem Land."
Drei Fragen an Die Linke
Laut Wahl-Umfragen müssen einige Parteien um ihren Wiedereinzug in den Landtag im September bangen. Betroffen ist davon auch die Partei Die Linke Sachsen.
Sie leistet seit über 30 Jahren Oppositionsarbeit im Parlament und befindet sich deshalb aktuell in der paradoxen Situation, auch als "etabliert" wahrgenommen zu werden. Drei Fragen an die beiden Vorsitzenden Susanne Schaper (46) und Stefan Hartmann (55) sowie den langjährigen Fraktionsvorsitzenden Rico Gebhard (60).
Herr Hartmann, haben Sie Angst, dass die Linke im nächsten Sächsischen Landtag nicht mehr vertreten ist?
Stefan Hartmann: "Nein. Wir sind und bleiben die demokratische Opposition und bauen auf der Arbeit unserer Landtagsfraktion auf, die schon immer für soziale Gerechtigkeit kämpft – etwa mit den Themen Löhnen, Bildung, Gesundheit, Pflege, Wohnen oder Klimaschutz."
Herr Gebhardt, können Sie es der CDU verzeihen, dass sie ihre Partei seit 1990 im Parlament konsequent blockiert und seither noch keinem Antrag ihrer Partei inhaltlich im Landtag zugestimmt hat?
Rico Gebhardt: "Um meine Gefühle geht es nicht, sondern darum, dass Sachsen schon viel sozialer und moderner sein könnte. Wir haben den CDU-geführten Koalitionen viele Vorschläge gemacht, mit denen heute die Löhne höher wären, Schulunterricht und Gesundheitsversorgung sicher, Wohnen bezahlbar und der Freistaat klimafreundlich."
Frau Schaper, würden Sie im Parlament einen CDU-Ministerpräsidenten unterstützen und ins Amt helfen, wenn es am 1. September ganz knappe Wahlergebnisse gibt?
Susanne Schaper: "Erstmal haben die Wählerinnen und Wähler das Wort. Dann wird unsere Partei entscheiden. Wir sind bereit, eine Machtübernahme der extremen Rechten zu verhindern. Für unsoziale Politik sind wir aber nicht zu haben."
So tickt der Wähler
Wie ticken die Wähler: Machen sie Unterschiede beim Urnengang zwischen Kommunal- und Europawahl?
Ja, sagt der Mainzer Politikwissenschaftler Kai Arzheimer (54).
Er erklärt: "Aus der Forschung weiß man, dass Wähler schon differenzieren." Das zeigt sich auch immer wieder bei zeitgleichen Bundestags- und Landtagswahlen. Viele Menschen sehen in der Europawahl eine Art "nationale Wahl zweiter Ordnung".
Kommunalwahlen sind hingegen eher Personen-Wahlen - besonders in kleinen Gemeinden, wo die Wähler oft persönlich mit den Kandidaten bekannt sind.
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