Von der Leyen: Europa muss für den schlimmsten Fall vorbereitet sein
Brüssel - Muss die EU mit einem vollständigen Stopp der Gaslieferungen aus Russland rechnen? Die EU-Kommission beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja und hat in der vergangenen Woche für den Fall der Fälle einen Notfallplan vorgestellt.
Im Interview der Deutschen Presse-Agentur erklärt Präsidentin Ursula von der Leyen (63, CDU), warum Gassparen aus ihrer Sicht jetzt schon wichtig ist.
Sie haben gesagt, dass Sie es für wahrscheinlich halten, dass Russland die Gaslieferungen in die EU komplett einstellt. Ist das auch nach der Wiederaufnahme der Lieferungen durch Nord Stream 1 noch ihre Annahme?
Ursula von der Leyen: Bei unserem Paket geht es genau darum, uns von solchen Entscheidungen des Kremls unabhängig zu machen. Denn es ist doch offensichtlich: Der Kreml ist kein verlässlicher Partner für die Energieversorgung Europas.
Gazprom hat seine Speicherstände bewusst niedrig gehalten. Inzwischen liefert Russland in zwölf Mitgliedstaaten nur noch teilweise oder gar nicht mehr Gas. Deswegen muss Europa für den schlimmsten Fall vorbereitet sein: einen vollständigen Stopp der Gaslieferungen, früher oder später.
Um die Folgen dessen abzufedern, müssen wir bis März nächstes Jahr 15 Prozent unseres Gasverbrauchs einsparen. Das sind 45 Milliarden Kubikmeter Gas. Und wir sollten sofort anfangen, denn je schneller wir handeln, desto mehr sparen wir - und desto sicherer sind wir.
Unser übergeordnetes Ziel bleibt es, in Europa bis spätestens 2027 komplett unabhängig von russischen Gasimporten zu werden. Mit Hilfe von REPowerEU wollen wir daher 300 Milliarden Euro investieren, etwa um Gas einzusparen und den Umstieg auf die Erneuerbaren zu beschleunigen. Gleichzeitig treffen wir neue Vereinbarungen mit zuverlässigeren Partnern wie den USA und Norwegen.
Preisobergrenze für Gas?
Der rasante Anstieg der Gas- und Strompreise trifft neben Unternehmen vor allem einkommensschwache Haushalte und Familien. Setzen Sie sich dafür ein, dass eine Preisobergrenze für Gas eingeführt wird?
Ursula von der Leyen: Die Staats- und Regierungschefs haben die Kommission gebeten, eine Preisobergrenze für importiertes Gas zu prüfen. Das machen wir derzeit. Gleichzeitig kennen wir die Schwierigkeiten einkommensschwächerer Haushalte genau.
Deswegen haben wir bereits im Oktober - also lange vor Putins Krieg - ein ganzes Tableau von Ideen vorgestellt, mit denen die Mitgliedstaaten den Preissteigerungen entgegenwirken können. Und die allermeisten EU-Mitglieder machen davon auch Gebrauch.
Sie senken Steuern auf Strom und Energie, sie bezuschussen einkommensschwache Haushalte, sie setzen Anreize für die energetische Sanierung von Altbauten, sie helfen von der Strompreissteigerung besonders betroffenen Unternehmen.
Auf europäischer Ebene haben wir zur Unterstützung zum Beispiel auch unsere Beihilferegeln zeitweilig angepasst. Im Rahmen von REPowerEU haben wir eine Energieplattform eingerichtet, um gemeinsam Gas zu kaufen und gute Preise für die Verbraucher in Europa auszuhandeln.
Was ist mit den Kernkraftwerken?
Ganz persönlich gefragt: Finden Sie die Idee gut, deutsche Kernkraftwerke länger laufen zu lassen, um im Notfall auf Strom aus Gaskraftwerken verzichten zu können?
Ursula von der Leyen: Diese Frage muss jedes EU-Mitglied für sich beantworten. Der Energiemix ist in der Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten. Ich beobachte aber genauso wie Sie wahrscheinlich auch, dass viele EU-Mitglieder davon ausgehen, dass die Atomkraft als Brückentechnologie gebraucht wird.
Für mich persönlich ist die erste Priorität, dass wir in Europa so viel wie möglich in die Erneuerbaren investieren, denn das ist die Zukunft.
Sie fordern angesichts eines drohenden Gasnotstands dazu auf, so gut es geht Energie zu sparen. Verraten Sie uns, wie in der Kommission gespart wird? Bleibt die Klimaanlage in diesen Tagen trotz der Hitze aus?
Ursula von der Leyen: Je nach Einsparpotenzial werden wir zum Beispiel die Temperatur anpassen und die Betriebszeit von Heizungen, Klimaanlagen und Beleuchtungen optimieren. Wir alle können etwas tun, um die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern.
Natürlich sollte der öffentliche Sektor dabei mit gutem Beispiel vorangehen. In der Europäischen Kommission tun wir das. Unser Ziel ist es, als Behörde bis 2030 klimaneutral zu sein. Wir sollten hier nie den größeren Zusammenhang vergessen. Putin überzieht die Ukrainerinnen und Ukrainer mit einem ungerechtfertigten, brutalen Krieg. Wir sollten alles dafür tun, ihm den Geldhahn abzudrehen.
Titelfoto: Philipp von Ditfurth/dpa