"Kanaken", "weiße Männer" und "Kartoffeln": So reagierte Boris Palmer auf die Stuttgarter Krawalle

Tübingen - Deutschlands wohl bekanntestes Stadtoberhaupt, Boris Palmer (48, Grüne), meldete sich im zu Ende gehenden Jahr immer wieder deutlich zu Wort. Etwa mit einer umstrittenen Aussage zum Coronavirus. Oder auch nach der Krawallnacht von Stuttgart im Sommer.

Tübingens OB Boris Palmer (48).
Tübingens OB Boris Palmer (48).  © Silas Stein/dpa

Rückblick: Baden-Württembergs Landeshauptstadt gilt im Rest der Republik gerne mal als provinziell-beschaulich.

Doch das ändert sich in der Nacht auf den 21. Juni schlagartig. Da landet die Neckarstadt nicht nur bundesweit in den Schlagzeilen. Selbst im Ausland wird berichtet, etwa auf CNN oder BBC.

Der Grund: Hunderte junge Männer ziehen randalierend durch die Innenstadt. Scheiben gehen zu Bruch. Geschäfte werden geplündert. Polizisten werden attackiert. Auch deren Streifenwagen angegangen.

Hass-Plakate gegen OB Boris Palmer verteilt: "Respektlos, egoistisch und hässlich"
Boris Palmer Hass-Plakate gegen OB Boris Palmer verteilt: "Respektlos, egoistisch und hässlich"

Die unfassbaren Szenen verbreiten sich zunächst im Social Web wie ein Lauffeuer. Ob Zeitung, Radio oder Fernsehen: Überall ist Stuttgart Thema.

Als es um Details zu den Randalierern geht, windet sich die Polizei, spricht nebulös von einer "Party- und Eventszene". Dabei ist auf Videos und Fotos längst für jeden ersichtlich: Die Mehrheit der Krawallos hat einen Migrationshintergrund.

Die gewaltbereite Menge skandiert etwa "Allahu Akbar" oder "Fuck the Police", während sie sich durch die Innenstadt bewegt. Die Ordnungshüter werden als "Hurensöhne" beschimpft.

Der Audiomitschnitt eines Polizeibeamten macht im Netz nach der Krawallnacht die Runde.

Der Mann beschreibt mit unüberhörbar schwäbischem Dialekt die Lage in der Nacht auf den 21. Juni: "Teile der Innenstadt... Königstraße, Rotebühlplatz sind entglast. Die Kollegen sind massiv mit Steinen, Flaschen beworfen worden." Im Hintergrund sind immer wieder Stimmen zu hören. Offenbar Polizeifunk.

"Das sind Krawalle wie in Amerika." Der Mann appelliert: "Leute, bleibt bloß daheim." In seinen Augen sei es ein Wunder, dass es noch keine toten Kollegen gebe: "Das ist Krieg. Wir befinden uns gerade heute Nacht wirklich im Krieg." Die Führung sei hilflos. "Alles in allem ist es eine Katastrophe."

Polizist über die Angreifer: "Nur Kanaken"

Zahlreiche junge Männer in der Stuttgarter Innenstadt, ehe die Krawalle losgingen. Über dieses Foto schrieb Palmer: "'Weiße Männer' kann ich kaum entdecken."
Zahlreiche junge Männer in der Stuttgarter Innenstadt, ehe die Krawalle losgingen. Über dieses Foto schrieb Palmer: "'Weiße Männer' kann ich kaum entdecken."  © 7aktuell.de/Simon Adomat

Seine Kollegen warnt er an anderer Stelle: "Also hier in Stuttgart ist Krieg. Wenn Du 'ne Uniform trägst... gute Nacht. Dann bist Du nur Opfer." Es sei ein Wunder, dass keiner erschossen wurde.

Und er prophezeit angesichts der Krawalle: "Da kommt noch was auf uns zu." Es sei erst "der Auftakt von dem, was man geholt hat." Als er darüber spricht, wer den Einsatzkräften gegenüberstehe, sagt er: "Nur Kanaken."

Unmittelbar nach der Randale meldet sich Boris Palmer zu Wort. Ein Foto aus der Nacht beschäftigt ihn.

Signale der Annäherung: Rückkehr von Boris Palmer zu den Grünen?
Boris Palmer Signale der Annäherung: Rückkehr von Boris Palmer zu den Grünen?

Darauf zu sehen: Zahlreiche junge Männer in der Stuttgarter Innenstadt, neben dem Kunstmuseum.

"Diese 'Partyszene' weist einige Besonderheiten auf", schreibt Palmer. "Maske trägt so gut wie niemand. Mindestabstand ist selten. Frauen kann ich allenfalls als Minderheit unter 10 Prozent vermuten."

Alle anderen seien junge Männer. "Von diesen wiederum haben nahezu alle ein Aussehen, das man im Polizeibericht als 'dunkelhäutig' oder 'südländisch' beschreiben würde. 'Weiße Männer' kann ich kaum entdecken. In den Videos der Krawallnacht haben fast alle Täter ein ähnliches Erscheinungsbild wie die meisten Männer auf diesem Foto", so der OB.

Von seinen Lesern will er wissen: "Rassismus? Oder vielleicht doch ein Grund, genauer hinzuschauen und sich zu fragen, wieso sich nach der Drogenkontrolle eines Jungen mit Migrationshintergrund plötzlich derart viele Menschen gegen die Polizei zusammenschließen?"

Auch zur "Kanaken"-Äußerung meldet er sich später zu Wort. "In der Krawallnacht von Stuttgart hat ein Polizist vermutlich auf WhatsApp ziemlich differenziert und zutreffend beschrieben, was sich dort nach Mitternacht zugetragen hat."

Palmer: "'Kanake' rassistisch und 'Kartoffel' voll okay?"

In den Augen Palmers hatte der Polizist einen abfälligen, nicht passenden Begriff benutzt - aber sachlich korrekt beobachtet und beschrieben.
In den Augen Palmers hatte der Polizist einen abfälligen, nicht passenden Begriff benutzt - aber sachlich korrekt beobachtet und beschrieben.  © Tom Weller/dpa

Der Beamte klinge konsterniert, frustriert, keinesfalls extremistisch. "Aber er beschreibt die Täter mit 'alles Kanaken'. Eindeutig ein Rassist?"

Über die Randalierer schreibt er: "Wie wir heute wissen, ist ein großer Teil der Tatverdächtigen als Asylbewerber ins Land gekommen oder hat im Ausland geborene Eltern. Auf den Fotos und Videos sieht man vor allem Personen, die heute People of Color genannt werden."

Der Polizist habe also einen abfälligen, nicht passenden Begriff benutzt, aber sachlich korrekt beobachtet und beschrieben, so Palmer.

Sodann fragt er seine Leser: "Wenn der Begriff alleine schon ausreicht für eine Verurteilung, wie ist es dann zu bewerten, dass unter migrantischen Jugendlichen der Begriff 'Kartoffeln' für weiße Deutsche verbreitet ist?" Der Grünen-Politiker werde seit vielen Jahren damit beschimpft, es gebe Aufkleber, die in der Stadt verteilt wurden.

Zum Beweis hat er dem Posting das Foto eines Stickers beigefügt. Darauf zu lesen: "Boris Palmer, Du scheiß Kartoffel! Gegen Deutsche und ihr Mimimi."

Der 48-Jährige fragt: "Ist 'Kanake' rassistisch und 'Kartoffel' voll ok?"

Er fordert: "Statt uns gegenseitig zu beschimpfen, sollten wir lieber die Probleme beider Seiten ernst nehmen. Viele People of Color berichten von häufigen Kontrollen durch die Polizei und diskriminierenden Erfahrungen. Das darf man nicht achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Das ist ein schwer wiegendes Problem."

Auf der anderen Seite berichteten Polizisten "aber auch davon, dass People of Color sich Kontrollen zu entziehen versuchen, indem sie grundlos Rassismusvorwürfe erfänden und Polizisten beleidigen und attackieren. Das ist ebenfalls ein schwer wiegendes Problem."

Die Tatverdächtigen der Krawalle: Jung und polizeibekannt

Innenminister Thomas Strobl (60).
Innenminister Thomas Strobl (60).  © Marijan Murat/dpa

Die Fähigkeit, sich in die Position der jeweils anderen zu versetzen, scheine völlig verloren zu gehen.

Das wäre in Palmers Augen aber nötig: "Denn die Probleme bedingen sich gegenseitig. Rassismus verstärkt Gegenwehr bei People of Color und Ohnmachtserfahrungen der Polizei gegenüber Respektverlust bei Migranten verstärken Rassismus."

Daher wäre es jetzt richtig, beide Phänomene in einer Studie zu untersuchen. "Wieviel Rassismus gibt es in der Polizei und wieviel 'Kartoffelrassismus' müssen die Polizisten ertragen?", will Palmer wissen.

Übrigens: Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (60, CDU) zog Mitte Dezember eine Bilanz der Krawallnacht. "Die Polizei hat 124 Tatverdächtige ermittelt und Gerichte haben die ersten, harten und gerechten Urteile gesprochen", so der 60-Jährige.

Was die Tatverdächtigen angeht, so steht zum Jahresende etwa fest, dass diese zumeist junge Männer sind. 68 Prozent der Tatverdächtigen haben die deutsche Staatsbürgerschaft, drei Viertel der deutschen Tatverdächtigen haben einen Migrationshintergrund.

Und: Bei der Polizei sind sie keine Unbekannten. "76 Prozent der ermittelten Tatverdächtigen haben bereits in der Vergangenheit Straftaten begangen und waren somit bereits in den polizeilichen Systemen erfasst."

Titelfoto: Montage: 7aktuell.de/Simon Adomat, Silas Stein/dpa

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