Antisemitismus auf Deutschlands Straßen: Boris Palmer spricht über jüdische Familiengeschichte
Tübingen - Der Nahost-Konflikt kocht seit Tagen hoch, auf Deutschlands Straßen demonstrieren Tausende. Oftmals wird dort blanker Judenhass zur Schau gestellt, israelische Flaggen brennen und selbst Synagogen werden nicht verschont. Nun hat sich Tübingens OB Boris Palmer (48, Grüne) zu Wort gemeldet - auch dort war marschiert worden.
Am Montag schrieb Palmer auf seiner Facebook-Seite zunächst von seiner ersten Reise nach Israel vor mehr als zehn Jahren.
Einen Abend lang habe er damals mit frisch ausgewanderten französischen Juden verbracht.
Die Auswanderer hätten ihm erzählt, "dass der arabisch und muslimisch geprägte Hass auf den Straßen von Frankreich so zugenommen hatte, dass sie nur noch die Auswanderung nach Israel als Lösung ansahen".
Und das, obwohl die ganze Familie seit Generationen in Frankreich gelebt habe. "Nur in Israel könnten sie als Juden noch sicher leben, so sagten sie."
Dann schlägt er den Bogen zu einer Demo, die vergangene Woche in der Neckarstadt stattgefunden hat: "Heute fliegen Raketen auf Israel und in Tübingen demonstrieren Gruppen arabischer Männer lautstark ohne Maske, selbst Kinder laufen schon mit."
Palmer schreibt von Vorwürfen, er würde seine jüdischen Vorfahren "nur instrumentalisieren, mich in eine Opferrolle hinein versetzen. Und ob das überhaupt stimme, mit den jüdischen Vorfahren?"
Holocaust-Opfer in Boris Palmers Familie
Dann nimmt er die Leser mit in ein Kapitel seiner Familiengeschichte.
"Mein Großvater Sigfried Kilsheimer lebte in Königsbach/Baden", notiert der Grünen-Politiker. "Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann und betrieb auch eine Metzgerei in Pforzheim. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er bis zur Verwundung 1917 auf deutscher Seite."
Auf dem jüdischen Friedhof in Königsbach liegen demnach Palmers Ahnen bis ins 18. Jahrhundert. "Meine drei Großonkel Edmund, Ferdinand und Sali aus Königsbach wurden von den Nazis verfolgt. Sali wurde bereits 1936 wegen jüdischer Hetze gegen das NS-System ohne Urteil nach Dachau und Buchenwald verschleppt und starb kurz nach der Ausreise 1939 in Shanghai an Typhus."
Verfolgungen, Sippenhaft und Verhaftungen ohne Urteile hätten im Frühjahr 1937 zur Flucht der gesamten Familie über England in die USA geführt. "Mein Vater blieb als uneheliches Kind einer Nichtjüdin im Remstal und wurde in der Schule vom Lehrer Moses genannt, nicht Helmut."
Nun gebe es für Palmer neue Erkenntnisse: "Heute schreibt mir eine Mitbürgerin, dass auch meine Familie seitens der Großmutter von den Nazis verfolgt wurde. Diesen Teil der Familiengeschichte kannte ich nicht."
Urgroßmutter Mina stamme laut dem 48-Jährigen aus der jüdischen Metzger-Familie Kiefer aus Alsfeld (Hessen). "Der Vater Marum war gleichzeitig verantwortlich für den jüdischen Friedhof. Dort existieren die Gräber meiner Ururgroßeltern Marum und Marie (Myriam) Kiefer sowie weiterer Verwandter." Der Holocaust habe Opfer in beiden Zweigen seiner Familie gefordert.
Bei den Bildern der jüngsten Demo in Tübingen denke Palmer an seine Gespräche mit dem ausgewanderten französischen Juden zurück: "Denn was sie am meisten verunsichert hat, war die fehlende Gegenwehr, die fehlende Solidarität. Wie kann es sein, dass heute vor Synagogen gegen Israel demonstriert und eine Israel-Flagge vom Rathaus in Hagen abgehängt wird, weil sie provoziert?"
Titelfoto: Montage: Screenshot Facebook.de/Boris Palmer, Tom Weller/dpa