Rasha Nasr ein Jahr für Dresden im Bundestag: So hat der Job ihr Leben bereits verändert
Berlin - "So jung und schon im Bundestag" lautete im Frühjahr der Titel einer kleinen TAG24-Serie, in der wir Euch Politiker vorstellten, die es schon in jungen Jahren in Deutschlands höchstes Parlament geschafft haben. Inzwischen ist die Bundestagswahl ein Jahr her. Mit Rasha Nasr, 30 Jahre, SPD-Abgeordnete aus dem Wahlkreis Dresden I wollen wir heute ein neues Gesicht zu Wort kommen lassen. Was hat sie in Berlin begeistert und was vielleicht bitter enttäuscht?
TAG24: Schon ein Jahr im Deutschen Bundestag, die Zeit ging ganz schön schnell um, oder?
Rasha Nasr: Ja und nein. Einerseits ist die Zeit extrem schnell verflogen, weil nie Langeweile aufgekommen ist und ich seit der Bundestagswahl noch gar nicht so richtig zur Ruhe gekommen bin. Andererseits ist in diesen zwölf Monaten mehr passiert, als wir uns alle vorgestellt hätten, sodass es sich manchmal anfühlt, als wären schon mehrere Jahre vergangen.
TAG24: Welcher Moment der vergangenen 12 Monate ist Dir besonders in Erinnerung geblieben?
Nasr: Natürlich gibt es die offensichtlichen Antworten: die Wahlnacht, als wir einen Sieg einfuhren, den man uns so lange nicht zugetraut hatte; die Wahl von Olaf Scholz zum Bundeskanzler; die Bundesversammlung; die Zeitenwende-Rede, die sicherlich allen besonders in Erinnerung geblieben ist. Aber ich denke auch gerne an all die vielen kleinen, persönlichen Begegnungen zurück, ob in der Wahlkreisarbeit, im Bundestag oder mit Freund:innen und Familie.
TAG24: Was war bislang die größte Enttäuschung für Dich?
Nasr: Das Wort Enttäuschung trifft es zwar nicht annähernd, aber am Morgen des 24. Februar ging es mir wie den allermeisten Bürger:innen. Dass die Friedensordnung in Europa damit zusammengebrochen ist, die grausamen Bilder zu sehen, die menschlichen Schicksale mitzubekommen, all das schmerzt noch immer.
TAG24: Wie hat die Zeit im Bundestag Dein Privatleben vereinbart?
Nasr: Bundestagsabgeordnete zu sein, ist kein normaler Bürojob. Man vertritt die Bevölkerung dieses Landes und füllt diese Rolle rund um die Uhr aus. Das hat natürlich auch gravierende Auswirkungen auf das Privatleben, angefangen bei der Zeit, die einem für Freizeit bleibt, bis hin zur Tatsache, dass man überall erkannt werden kann und daher nie zu 100 Prozent aus der Rolle der Abgeordneten schlüpfen kann.
Die Dresdnerin Rasha Nasr sitzt für die SPD im Deutschen Bundestag
TAG24: Gibt es die alten Freunde in der Heimat noch und sind im vergangenen Jahr neue Freundschaften dazu gekommen? Kann man im Bundestag eigentlich Freundschaften schließen, auch zu Abgeordneten anderer Parteien?
Nasr: Die alten Freundinnen und Freunde gibt es nicht nur, sie sind nun vermutlich auch wichtiger denn je. Sie sagen einem klar und deutlich, wenn ihnen etwas nicht gefällt, und sie bauen einen auf, wenn es schwierige Tage gibt. Ohne wahre Freund:innen ist man aufgeschmissen.
Natürlich kann man auch neue Freundschaften schließen, selbst unter den anderen Fraktionen. Aber um derart enge Freundschaften zu schließen, wie sie in der Heimat bereits existieren, hat man schlichtweg keine Zeit.
TAG24: Verbunden mit der Tätigkeit im Bundestag ist auch eine durchaus stattliche Bezahlung. Wie hat sich das Leben mit Blick aufs Monetäre verändert?
Nasr: Mein Lebensstil hat sich kaum verändert. Ich hätte auch gar nicht die Zeit, mir neue, teure Hobbys zuzulegen. Vielleicht schlage ich bei dem ein oder anderen Lego-Set heute schneller zu, als ich das noch bis vor einem Jahr gemacht hätte. Im letzten Jahr ist eher die Erkenntnis gereift, dass es zwar schön ist, finanziell unabhängig zu sein, aber der größte Schatz die Zeit ist, die man mit den Menschen verbringen kann, die man liebt. Je seltener die wird, desto kostspieliger erscheint sie einem.
TAG24: Erfährst Du viel Neid, was das Monetäre angeht?
Nasr: Natürlich höre auch ich manchmal die üblichen Sprüche: Politiker:innen verdienen zu viel, haben keinen Bezug zum Alltag der Menschen, sind nur wegen des Geldes in der Politik. Oft ist mein erster Instinkt dem zu widersprechen und darzulegen, warum all das in meinem Fall nicht stimmt.
Aber als Gesellschaft müssen wir auch verstehen, wo das herkommt. Wenn die Schere zwischen Arm und Reich größer wird, Existenzen bedroht sind und Lebensleistungen nicht anerkannt werden, entsteht Frust. Und Frust äußert sich eben nicht immer konstruktiv. Meine Aufgabe ist es also nicht, den Leuten zu widersprechen, sondern dafür zu sorgen, dass sich niemand mehr beklagen muss. Das ist eine große Aufgabe, aber eben auch der Grund, warum ich in die Politik gegangen bin.
SPD-Politikerin Nasr: "Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hat sich in den letzten zwölf Monaten verständlicherweise stark auf die großen Krisen fokussiert"
TAG24: Der Krieg in der Ukraine und die damit verbundene Energiekrise macht einen normalen Parlamentsalltag nahezu unmöglich. Kannst Du Deine Projekte überhaupt noch anbringen, oder gehen die alle unter?
Nasr: Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hat sich in den letzten zwölf Monaten verständlicherweise stark auf die großen Krisen fokussiert – Corona, Ukraine, Energie. Aber die Ampel hat in dieser Zeit nicht nur diese Krisen gemanagt, sondern auch an vielen Stellen die notwendige Modernisierung unseres Landes wie geplant vorangebracht.
Wir haben den §219a abgeschafft, der es Ärzt:innen verboten hat, über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren. Wir haben den Mindestlohn wie versprochen auf 12 Euro erhöht. Wir arbeiten gerade an der Umsetzung des Bürgergelds. Ich arbeite derzeit vor allem an der Reform der Fachkräftezuwanderung. Die Ausschüsse stehen also nicht still.
TAG24: Welches Thema würdest Du sofort angehen, wenn Du könntest?
Nasr: Dass wir in Sachsen mit 43 Prozent die niedrigste Tarifbindung in ganz Deutschland haben, kann ich einfach nicht akzeptieren. Am liebsten würde ich sofort dafür sorgen, dass wir mindestens zu den Ländern aufschließen, in denen die Tarifbindung am höchsten ist, und damit endlich gleiche Löhne in Ost und West und ein insgesamt höheres Lohnniveau in Deutschland haben.
TAG24: Ist Berlin für Dich ausschließlich ein Ort zum Arbeiten, oder gibt es Plätze, an denen Du Dich inzwischen "zu Hause" fühlst?
Nasr: Mein Zuhause ist und bleibt Dresden, wo ich jede freie Minute verbringe. Nach einer langen Berlin-Woche in Dresden aus dem Zug auszusteigen, durch meine Stadt zu laufen und mich mit meinen Freund:innen und meiner Familie zu treffen, ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl.
Titelfoto: Christian Kielmann