Gregor Gysis letzter Wahlkampf: Das ist sein vorderstes Ziel

Dresden - Die Alten sollen's richten, nur noch dieses eine Mal.

Gregor Gysi (77, Die Linke) kandidiert noch ein letztes Mal für den Bundestag.
Gregor Gysi (77, Die Linke) kandidiert noch ein letztes Mal für den Bundestag.  © Eric Münch

Gemeinsam mit den beiden Altvorderen der Linken, Bodo Ramelow (68) und Dietmar Bartsch (66), tourt Gregor Gysi (77) gerade auf "Mission Silberlocke" durch die Republik.

Ihr Ziel: drei Direktmandate, um ihrer Partei aus der Existenzkrise und noch einmal in den Bundestag zu verhelfen.

Für Gysi, seit Jahrzehnten zweifelsohne der talentierteste politische Redner im Osten, ist dieser Wahlkampf zugleich eine Art Abschiedstour.

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Zeit für ernste Fragen: Wie steht es um die Wiedervereinigung 35 Jahre nach der Wende? Warum ist die AfD so erfolgreich, kämpft die Linke ums Überleben und fühlen sich so viele Ostdeutsche gedemütigt?

Im Gespräch mit Erik Töpfer und Mario Adolphsen zieht Gregor Gysi kritisch Bilanz.

Gysi: Wir hatten auch über "Silberrücken" nachgedacht

Ramelow, Gysi, Bartsch (v.l.) - drei Originale und ihre Pappkameraden.
Ramelow, Gysi, Bartsch (v.l.) - drei Originale und ihre Pappkameraden.  © dpa/Sebastian Gollnow

TAG24: Herr Gysi, zugegeben: Als wir das erste Mal von der "Mission Silberlocke" hörten, hatten wir uns auf eine Perücke gefreut.

Gregor Gysi: Wenn ich meine Haare am Rand meines Kopfes wachsen ließe und dann einen Lockenwickler eindrehte, hätte ich eine Silberlocke. Die Idee ist übrigens gar nicht von mir, sondern von Bodo Ramelow. Wir hatten auch über "Silberrücken" nachgedacht, aber das fanden wir doof und haben uns für die Locke entschieden.

TAG24: Die Alt-Linken Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch sollen ihre Partei in den Bundestag hieven, auch wenn sie an der 5-Prozent-Hürde scheitert. Dabei ist längst nicht klar, ob Sie drei einziehen.

Linken-Chefin fürchtet: Merz könnte Agenda mit AfD durchsetzen
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Gysi: Ich bin seit 1990 immer direkt gewählt worden und der Abstand war auch beim letzten Mal ziemlich groß. Also traue ich es mir zu, aber ich muss dafür auch etwas tun. Am 23. Februar abends sage ich Ihnen Bescheid, ob es geklappt hat.

Gysi: Seit ich 77 bin, übe ich nur noch fünf Berufe aus

Bei seiner Wahlkampagne beweist Gysi mal wieder Humor.
Bei seiner Wahlkampagne beweist Gysi mal wieder Humor.  © Eric Münch

TAG24: Silberlocke - der Slogan funktioniert gut. Menschen haben beim Lesen meist ein Lächeln im Gesicht...

Gysi: Bei meinem Wahlplakat wollen Mitglieder meiner Partei regelmäßig, dass ich draufschreibe: "Für Frieden und soziale Gerechtigkeit". Aber da gehst du dran vorbei. Bei meinem letzten Wahlkampf hatte ich ein Plakat: "...'tschuldigung, brauch' mal wieder Ihre Erststimme." Diesmal haben wir uns entschieden, wir nehmen denselben Satz und streichen das "mal" und schreiben ein "schon" handschriftlich drüber. Jetzt heißt es also: "… 'tschuldigung, brauch' schon wieder Ihre Erststimme." Und diesmal kommt ein ganz wichtiger Satz drunter: "Übrigens zum letzten Mal!"

TAG24: Das letzte Mal steht fest?

Gysi: Das steht absolut fest. Seit ich 77 bin, übe ich nur noch fünf Berufe aus. Ich habe das schon deutlich reduziert.

TAG24: Sie hätten es sich auch leichter machen können, mit einem Bühnenprogramm zum Beispiel. Warum tun Sie sich die Wahlkampf-Ochsentour noch einmal an?

Gysi: Das haben wir uns alle drei auch gefragt. Mein tieferer Grund ist folgender: Wenn wir nicht im Bundestag sind, gibt es dort keine linken Argumente mehr. Und wenn wir keine linken Argumente im Bundestag haben, sterben sie auch Schritt für Schritt in den Medien aus und damit auch in der Gesellschaft.

Gysi: Welche ist die Richtige?

Bundekanzler Olaf Scholz (66, SPD) wird Gysi in diesem Leben keine neue Heimat in der SPD bieten müssen.
Bundekanzler Olaf Scholz (66, SPD) wird Gysi in diesem Leben keine neue Heimat in der SPD bieten müssen.  © Jan Woitas/dpa

TAG24: Ihre Partei hatte sich zuletzt aber vor allem mit sich selbst beschäftigt.

Gysi: ...ja, aber das hat sich beim letzten Parteitag im Herbst 2024 geändert. Jetzt merken die Menschen, die kümmern sich wieder um mich und nicht vornehmlich um sich selbst. Das ist ja das Entscheidende. Wenn du so viel Selbstbeschäftigung betreibst, wie wir sie davor gemacht haben, dann wählen dich die Leute nicht.

TAG24: An Ihrer Popularität liegt es jedenfalls nicht. Wenn der Name Gysi fällt, sagen die meisten: "Super Typ, sehr klug und sympathisch - aber falsche Partei."

Gysi: Ja, das kenne ich. Und dann frag ich immer zurück: "Welche ist die Richtige?" - und krieg keine Antwort. Es hat sich noch nie einer getraut zu sagen, dann geh' doch in die SPD oder so (lacht).

TAG24: Linke Politik gibt's also nur mit Ihnen? Ist das BSW keine linke Partei für Sie?

Gysi: Nein. Sahra Wagenknecht hat gesagt, Links will sie weder für sich noch für das Bündnis in Anspruch nehmen. Sie vertrete eine moderne konservative Partei. Was das sein soll, weiß ich zwar nicht, aber sie wollen nicht links sein. Europa- und Flüchtlingspolitik macht sie wie die AfD, Wirtschaftspolitik wie Ludwig Erhard und Sozialpolitik wie die Linke. Und dann geht sie davon aus, dass sie überall die Wähler einsammelt.

Gysi: Sie hat nicht der AfD die Stimmen genommen, sondern uns

Tiefes Zerwürfnis: Sahra Wagenknecht (55) und Gregor Gysi.
Tiefes Zerwürfnis: Sahra Wagenknecht (55) und Gregor Gysi.  © IMAGO/dts Nachrichtenagentur

TAG24: 2011 und 2013 wollte Wagenknecht mit Ihnen die Linksfraktion leiten, Sie verhinderten das. Ihre Streitereien mündeten im BSW. Bereuen Sie die Entwicklung?

Gysi: Nein. Das Problem ist, Sahra kümmert sich nicht um den Apparat. Sie sieht den Verwaltungsanteil nicht. Fraktionsvorsitzender ist zu 50 Prozent Wirkung nach außen, aber du musst ja auch nach innen leiten! Das wäre alles an mir hängen geblieben.

TAG24: Aber die Linke zu zerstören, ist ihr fast gelungen.

Gysi: Ja klar, sie hat nicht der AfD die Stimmen genommen, sondern uns. Aber das lag auch an uns. Ich habe immer gesagt: Am Anfang ist sie erfolgreich und dann nicht mehr. Weil sie Illusionen verbreitet, denen man zunächst folgt, aber nicht lange.

TAG24: Am Ende verhelfen vielleicht gar nicht Sie der Linken in den Bundestag, sondern Friedrich Merz. Müssen Sie ihm danken für die Entwicklungen der vergangenen Tage?

Gysi: Mir ist Politik zu wichtig, als dass ich für angerichtete Schäden, die vielleicht für uns bei der Wahl günstig sind, Dankbarkeit entwickle. Dazu muss man die Geschichte meiner Familie kennen: Meine Großmutter hat im Zweiten Weltkrieg überhaupt nur überlebt, weil sie im nicht besetzten Teil Frankreichs Asyl bekam. Meine Urgroßmutter ist in Auschwitz umgebracht worden. Es gibt eine Karte in meiner Familie von ihr, da schreibt sie: "Mir geht es gut, bitte schreibt mir, auch wenn ich nicht antworte." Ich bin dadurch geprägt, schon durch meine Eltern, die ja auch Widerstand gegen die Nazis geleistet hatten.

Gysi: Es gab in Magdeburg mehr Tote, aber das ist für einige immer noch Sowjetunion

CDU-Chef Friedrich Merz (69) ist auf dem Weg ins Kanzleramt.
CDU-Chef Friedrich Merz (69) ist auf dem Weg ins Kanzleramt.  © Christoph Reichwein/dpa

TAG24: Aber spricht Friedrich Merz seiner Wählerschaft nicht aus der Seele?

Gysi: Teils und teils nicht. Und das ist die Gefahr. Es gibt auch konservative Wähler, die seine Flüchtlingspolitik richtig finden, aber das Zusammengehen mit der AfD gefällt ihnen überhaupt nicht. Und er hat ja selbst vorher verkündet im Bundestag, es wird keine zufälligen Mehrheiten geben, damit die AfD nicht irgendein Gesetz beschließt - und dann hat er es doch zugelassen. Aber es gibt noch etwas, das nicht auffällt. Der Gesetzesentwurf kam nicht nach Magdeburg, er kam nach Aschaffenburg. Darf ich das ein bisschen übelnehmen? Es gab in Magdeburg mehr Tote, aber das ist für einige immer noch Sowjetunion.

TAG24: Sie sind direkt aus der DDR-Volkskammer in den Bundestag gekommen, waren dort mit einer Unterbrechung immer vertreten. Eine echte Wiedervereinigung: Die hätten auch Sie vorantreiben müssen.

Gysi: Der Fehler war schon bei der Herstellung der deutschen Einheit. Die Bundesregierung konnte nicht aufhören zu siegen. Sie hat die Schlösser, die Kirchen, die Stadtzentren, die Wohnungen saniert, aber die DDR auf Mauertote und Staatssicherheit reduziert. Für das Leben in der DDR haben sie sich nicht interessiert. Sie haben nur das Sandmännchen, das Ampelmännchen und den grünen Abbiegepfeil übernommen. Wenn du einer ganzen Bevölkerung sagst, mehr habt ihr nicht geleistet, dann demütigst du sie zutiefst. Und das sitzt. Bis heute.

Gysi: Die anderen Parteien konnten diese Rolle nicht spielen

AfD-Kanzlerkandidat Alice Weidel (46).
AfD-Kanzlerkandidat Alice Weidel (46).  © Michael Kappeler/dpa

TAG24: Was haben Sie denn getan, um daran etwas zu ändern?

Gysi: Was unser Verdienst ist, dass wir trotz all dieser Umstände die Interessen derjenigen verteidigten, die keine Einheit wollten, derjenigen, die wussten, dass aus ihnen nichts wird, und derjenigen, die dachten, dass aus Ihnen etwas wird, aber aus denen nichts wurde, also den Enttäuschten. Außerdem zeigten wir ihnen einen Weg, die deutsche Einheit zu akzeptieren. Das konnten nur wir. Die anderen Parteien konnten diese Rolle nicht spielen.

TAG24: Aber das hat sich geändert. In den 90er-Jahren war die PDS die Kümmerer-Partei. Heute ist das in der Meinung vieler Ostdeutscher die AfD.

Gysi: Das liegt daran, dass wir nach der Vereinigung mit der WASG davon ausgingen, dass jetzt unsere große Stunde in Bayern und Nordrhein-Westfalen geschlagen hat. Diese Freiräume hat die AfD genutzt. Das haben wir selbstkritisch aufgearbeitet. Und jetzt endlich ist Ostdeutschland wieder eines der Schwerpunktthemen meiner Partei.

Gysi: Hitler hatte vor seiner Ernennung nie eine Mehrheit

Momente der Machtergreifung: Adolf Hitler (M.) Ende Januar 1933.
Momente der Machtergreifung: Adolf Hitler (M.) Ende Januar 1933.  © imago/Everett Collection

TAG24: Sie bedauern, dass die Brücken nicht zu Ende gebaut worden sind. Wäre es nicht ihre Aufgabe gewesen, wenigstens in diesem Punkt regierungsfähig zu werden?

Gysi: Was meinen Sie, was das für eine Anstrengung war, die Partei das erste Mal in die Regierung in Mecklenburg-Vorpommern zu bekommen. Auf Bundesebene ging das überhaupt noch nicht, da war der Abstand noch viel zu groß. Die SPD war auch überhaupt nicht dazu bereit. Das hat sich inzwischen möglicherweise geändert.

TAG24: In Brandenburg sitzt das BSW jetzt in der Regierung. In Sachsen hat sogar die CDU mit ihm sondiert.

Gysi: Mit der Vertreterin der Kommunistischen Plattform! Damit haben Sie mir immer erklärt, wieso sie Koalitionen mit uns ausgeschlossen haben. Jetzt koalieren sie zwar mit Sahra, aber nicht mit uns! Das ist Schwachsinn hoch vier.

TAG24: Es geht längst nicht mehr nur ums Kümmern und um Strukturen. Es ist auch diese tief sitzende Demütigung, die den Osten kippen lässt: Mehr als zwei Drittel hier sind unzufrieden mit der Demokratie.

Gysi: Aber eine Mehrheit wählt nicht die AfD! Darauf lege ich schon Wert. Es kommt die Frage auf: Muss man sie nicht in die Regierung nehmen, damit die Leute merken, dass die auch nicht zaubern können? Als Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannte, waren in seiner Regierung nur zwei NSDAP-Mitglieder. Er und noch ein Minister, alle anderen waren in bürgerlichen Parteien. Hitler hatte vor seiner Ernennung nie eine Mehrheit, sein bestes Ergebnis waren 37 Prozent.

Gysi: Das hätte auch Merz nicht machen dürfen

Während seines Dresden-Besuchs stellte sich Gregor Gysi diese Woche den Fragen der TAG24-Redakteure Erik Töpfer (l.) und Mario Adolphsen.
Während seines Dresden-Besuchs stellte sich Gregor Gysi diese Woche den Fragen der TAG24-Redakteure Erik Töpfer (l.) und Mario Adolphsen.  © Eric Münch

TAG24: Wenn wir Sie richtig verstanden haben: Sie vergleichen damit die Zeit um 1933 mit der indirekten Zusammenarbeit zwischen CDU und AfD im Bundestag Ende Januar?

Gysi: Nein, aber das finde ich trotzdem schlimm. Das hätten sie nicht machen dürfen. Das hätte auch Merz nicht machen dürfen. Es könnte sein, dass er die CDU gefährdet. Vielleicht nicht bei der Wahl, aber im Inneren.

TAG24: Sie kennen den Osten so gut wie kaum ein anderer Politiker, sie sehen, wie tief die Gräben sind. Wie kann man die noch kitten?

Gysi: Wir brauchen eine Regierung mit zwei Eigenschaften, auf die ich aber kaum hoffe. Erstens muss sie jetzt begreifen, auch gegenüber den USA, dass sie die Regierung eines freien, unabhängigen, souveränen, demokratischen Staates ist. Und genauso das Recht hat, Interessen zu artikulieren, wie auch Trump das Recht hat, seine Interessen zu artikulieren. Es gab bisher eine gewisse Unterwürfigkeit. Das Zweite: Sie muss eingestehen, welche Fehler sie bei der deutschen Einheit begangen hat und sich dafür entschuldigen. Hätten sie sich das Leben in der DDR angesehen, sie hätten gemerkt, dass wir bei der Gleichstellung der Geschlechter deutlich weiter waren. Dass wir eine Behalte- und keine Wegwerfgesellschaft waren. Sie hätte gemerkt, dass viele Kindereinrichtungen sehr gut waren. Wenn sie vier, fünf solcher Sachen übernommen hätte, die Ostdeutschen wären nicht so gedrückt worden im Selbstbewusstsein. Aber ob der Merz den Mumm dazu hätte, das wage ich zu bezweifeln. Bei Scholz übrigens auch.

TAG24: Nur noch eine Frage: Was machen Sie, wenn es für die Linke doch nicht klappt mit dem Einzug in den Bundestag?

Gysi: Ach, dann habe ich immer noch vier Jobs. Langweilig wird mir jedenfalls nicht. Aber, ich bitte Sie, es wird doch klappen.

Herr Gysi, wir danken für das Gespräch.

Titelfoto: Eric Münch

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