Partei-Chefin Ricarda Lang: Wie ideologisch aufgeladen sind die Grünen?

Berlin - Seit gut anderthalb Jahren ist Ricarda Lang (29) Parteichefin der Grünen. Viel wurde seitdem über sie, eher weniger mit ihr gesprochen. Im Interview mit TAG24 äußert die 29-Jährige jetzt zu einigen der dringendsten Themen unserer Zeit.

Ricarda Lang (29) ist seit Februar 2022 Chefin der Grünen.
Ricarda Lang (29) ist seit Februar 2022 Chefin der Grünen.  © Christian Kielmann

TAG24: Keine Atomkraftwerke - dafür mehr Kohle, Vetternwirtschaft statt Saubermann, und ach ja, Aufrüstung und die Bundeswehr: Wer oder was sind die Grünen heute, Frau Lang?

Ricarda Lang: Wir sorgen uns darum, dass alle Menschen gut leben können im Heute, aber eben auch im Morgen. Dafür handeln wir pragmatisch und behalten das große Ganze im Blick. Ja, als es nötig war, haben wir Atomkraftwerke länger laufen lassen - gleichzeitig machen wir richtig Tempo beim Ausbau Erneuerbarer Energien. Ja, wir stärken die Bundeswehr angesichts der Zeitenwende und gleichzeitig bleiben wir Friedenspartei.

Die Bürgerinnen und Bürger trauen uns doch dann etwas zu, wenn wir Lösungen anhand der Realität finden. Die Ziele Klimaschutz und Gerechtigkeit bleiben dabei zentral, sie gehen Hand in Hand.

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TAG24: Der Verband Sächsischer Wohnungsgenossenschaften warf dem "Elfenbeinturm Berlin" zuletzt vor, "die eigentlich gute grüne Idee" durch "ideologische Unterwanderung" zu zerstören. Wie ideologisch aufgeladen bzw. objektiv ist ihre Partei?

Anders gefragt: Wenn die Kosten für Öl und Gas explodieren und die Leute Sorge haben, wie sie ihre Rechnung bezahlen sollen - ist dann der Wunsch nach Preisstabilität und sicherer Energie ideologisch? Ich finde, das ist doch grundvernünftig. Energie aus Wind und Sonne macht uns unabhängig, ist quasi für alle frei verfügbar. Kommunen können mit einem Windrad das Freibad versorgen.

Mittlerweile gibt es im Discounter für ein paar Hundert Euro Solaranlagen für den Hausgebrauch. Da kann Familie Müller den Rasenmäher oder Fernseher mit Energie vom eigenen Balkon oder Vorgarten betreiben. Ohne Gas und Öl einzukaufen. Jeder kann profitieren. Das ist doch eine riesige Chance. Für mich zählt, den Blick aufs Wesentliche zu richten. Über Brötchentasten beispielsweise müssen wir in Zukunft nicht mehr reden.

Der Atomausstieg ist die "Einstiegsdebatte ins Zeitalter der erneuerbaren Energien"

Das Thema Heizen beschäftigt aktuell ganz Deutschland.
Das Thema Heizen beschäftigt aktuell ganz Deutschland.  © dpa/Marcus Brandt

TAG24: Wenn wir auf das Wesentliche blicken – zum Beispiel die Energieversorgungssicherheit – dann ist doch der Atomausstieg ihrerseits klar ideologisch aufgeladen.

Lang: Für mich war das weniger eine Ausstiegsdebatte, sondern eine Einstiegsdebatte ins Zeitalter der erneuerbaren Energien. Es war immer klar: Solange wir Atomkraftwerke gebraucht haben, lassen wir sie laufen. Wir haben als Regierung Verantwortung gegenüber den Menschen im Land – heute, aber auch für morgen. Wir wissen, dass Atomstrom ziemlich teuer und oft unzuverlässig ist.

In Frankreich stehen die AKWs immer häufiger still, zum Beispiel weil aufgrund von Hitzewellen und Dürren die Kühlung nicht funktioniert. Im Vergleich sind die Erneuerbaren jetzt schon wesentlich billiger. Für die Zukunft ist der Weg also klar.

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TAG24: Ist die Wärmewende – Stand jetzt – gescheitert? Oder wird sie falsch verstanden?

Lang: Nein. Im Deutschen Bundestag werden wir noch vor der Sommerpause das Gebäude-Energie-Gesetz beschließen. Und ich werde mich persönlich dafür einsetzen, dass es mit einem starken sozialen Ausgleich einhergeht. Wir wollen eine soziale Staffelung - wer mehr Unterstützung braucht, kriegt sie auch. Jemand mit wenig Geld bekommt dann ordentlich Unterstützung, unser Konzept sieht bis zu 80 Prozent Förderung vor. Ich hoffe, dass die Koalitionspartner da mitziehen.

TAG24: Wie beurteilen Sie den Zustand Ihrer Regierung einen Monat vor der Sommerpause?

Lang: Dass wir im Großen und Ganzen gut durch den letzten Winter gekommen sind, ist ein wahnsinniger Verdienst des ganzen Landes. Es ist aber auch ein politischer Verdienst. Jeder innerhalb der Ampel war bereit anzupacken, schnell zu handeln.

Wir als demokratisches Land haben das geschafft, jetzt schaffen wir auch die Herausforderungen, die vor uns liegen. Dabei hilft der Tonfall der letzten Wochen nicht. Es führt mitunter zu Frust, wenn wir Probleme vor allem in der Presse und nicht in der Koalition klären. Jetzt wird es Zeit, dass alle einen Gang runterfahren, es weniger schrille Töne gibt und der Fokus auf der Arbeit liegt. Wir haben noch sehr viel vor.

Deshalb ist der Klimawandel eine Chance

Im TAG24-Büro in der Berliner KulturBrauerei stand Lang Politikredakteur Paul Hoffmann (30, M.) und Reporter Erik Töpfer (23, r.) Rede und Antwort.
Im TAG24-Büro in der Berliner KulturBrauerei stand Lang Politikredakteur Paul Hoffmann (30, M.) und Reporter Erik Töpfer (23, r.) Rede und Antwort.  © Christian Kielmann

TAG24: "Jetzt wird es Zeit" heißt, dass es sich noch immer nicht beruhigt hat?

Lang: Ich denke, die allermeisten wollen sich auf das fokussieren, was wir gemeinsam vorhaben. Und da gibt es so viel: der Kampf gegen Kinderarmut und für bessere Löhne. Und bei der Fachkräfteeinwanderung sorgen wir gerade dafür, dass Menschen, die sich verdient machen wollen, auch hier verdienen dürfen.

TAG24: Stichwort Soziale Gerechtigkeit: Wie wollen Sie etwa Andersdenkende mitnehmen? Wie einen Ausgleich schaffen zu dem, was da alles auf uns zurollt?

Lang: Das Wichtigste ist, offen im Gespräch zu bleiben. Kein Mensch, auch kein Politiker, hat die Wahrheit für sich gepachtet. Nehmen wir beispielsweise die Kohleförderung in der Lausitz. Natürlich gibt es viele Fragen, wie es nach dem Kohleausstieg weitergeht.

Gleichzeitig ist es Aufgabe von Politikern, vorzusorgen, Antworten zu finden. Deswegen werde ich im Sommer im Rahmen meiner Sommertour etwa ins Kohlerevier in der Lausitz fahren und mit den Menschen vor Ort eine gemeinsame Perspektive entwickeln. Bei allen Maßnahmen muss zu Beginn die soziale Frage stehen.

TAG24: Wenn die Energiewende auch als Chance gesehen werden kann und zahlreiche neue Jobs schafft: Warum wird die Kampagne für den Klimawandel nicht genau so geführt? Auch Ihre Partei vermittelt nicht dieses Bild…

Lang: Ich war vergangene Woche in den USA. Wenn dort über Klima gesprochen wird, dann geht es um Wohlstand, Jobs und Infrastruktur. Und all das wird dort dadurch geschaffen. Eigentlich ist Klimaschutz ein Gewinnerthema. "Wenn ich Klima höre, höre ich Jobs", hat Joe Biden gesagt. Und mir geht es genauso. Das Thema so nach außen zu tragen, ist unsere Aufgabe der nächsten Monate. Parteien können auch dazulernen.

Am morgigen Sonntag lest Ihr, wie die Hochzeitsplanungen der Grünen-Chefin laufen und wie sie zu persönlichen Anfeindungen steht.

Titelfoto: Christian Kielmann

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