Soziologie-Professor rechnet mit Corona-Politik ab: "Vieles blieb halbherzig und unkoordiniert"
Görlitz/Zittau - Die Politik ringt um strengere Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Nächste Woche soll das Infektionsschutzgesetz des Bundes verschärft und um Ausgangssperren ergänzt werden. Doch der Rückhalt der Maßnahmen in der Bevölkerung bröckelt zunehmend. Was können Politiker jetzt tun? TAG24 fragt Prof. Raj Kollmorgen (57), Professor für Management sozialen Wandels und Prorektor Forschung an der Hochschule Zittau/Görlitz.
TAG24: Herr Prof. Kollmorgen, welche verschärfenden Maßnahmen sind jetzt denkbar, die auf Zustimmung in der Bevölkerung stoßen?
Prof. Raj Kollmorgen: Die EINE Bevölkerung gibt es nicht. Während die allermeisten Eltern mit schulpflichtigen Kindern eine neuerliche Einstellung des Präsenzunterrichtes ablehnen, sehen Erwachsene ohne Kinder das anders.
Bei den jetzt wieder ins Spiel gebrachten Ausgangsbeschränkungen sehen wir eine ähnliche Zerrissenheit. Hier wird allerdings von Wissenschaftlern davor gewarnt, dass dies gerade Jüngere dazu drängen könnte, sich verstärkt in Wohnungen statt auf der Straße zu treffen, was das Gegenteil des Beabsichtigten und virologisch Sinnvollen wäre. Zugleich bleibt dies aber ein nicht zu unterschätzendes Werkzeug zur generellen Minderung von Mobilität und Kontakten.
Wie hat sich die Unterstützung der Maßnahmen in der Bevölkerung verändert?
Wir beobachten seit Monaten eine Abnahme der Unterstützung und der Zufriedenheit mit der Pandemiepolitik der Bundes- und Landesregierung. Spannenderweise polarisiert sich dabei die Meinung der Bevölkerung - auch in Sachsen. Während hier zunächst noch zwei Drittel den Kurs unterstützten, sackte dieser Wert bis auf ein Viertel ab.
Heute sind gut drei Viertel mit der Pandemiepolitik unzufrieden, wobei deutlich über 40 Prozent die Maßnahmen für zu hart halten und 30 Prozent sie als zu weich oder zu schwach bewerten.
Prof. Kollmorgen: "Regierung hat drei gravierende Fehler gemacht"
Welche Fehler hat die Regierung gemacht, sodass die Zustimmungswerte und das Vertrauen sinken?
Ein Vergleich der Pandemiepolitiken zwischen Brasilien und Israel zeigt, dass es deutlich schlechter, aber eben auch besser geht. Ich würde vor allem drei Fehler der deutschen Regierungspolitik identifizieren: Erstens hat die Regierung die Lernchancen des faktischen Moratoriums im Sommer und Frühherbst 2020 nicht zur Vorbereitung auf die zweite und dritte Welle genutzt, obgleich die Prognosen und viele der zu lösenden Probleme klar auf dem Tisch lagen.
Zweitens gab es eine Bevorzugung von auch in normalen Zeiten besonders gut organisierten und lobbystarken Interessengruppen - wie die Großindustrie. Andererseits fanden organisierbare und politisch schwache Bevölkerungsgruppen - von Alleinerziehenden über Pflegebedürftige bis zu selbstständigen Kleinkünstlern -, lange Zeit und teils bis heute kaum Beachtung und effektive Unterstützung.
Drittens hat sich die Regierung in der Schaffung von Kapazitäten für Testungen und Impfungen zu sehr auf den Normalbetrieb der Marktwirtschaft verlassen und eine strikte staatliche Förderung, Steuerung und Kontrolle unterlassen. Das rächt sich jetzt.
Nicht schnell genug in Lockdown gegangen? "Vieles blieb halbherzig, Stückwerk, unkoordiniert"
Und lief nicht auch alles viel zu langsam an?
Das Land hat es nicht vermocht, schnell und konsequent genug in einen Krisenmodus umzuschalten. Vieles blieb halbherzig, Stückwerk, unkoordiniert. Den relevanten Akteuren wurden die notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen sowie Durchgriffsrechte verweigert.
Was können Politiker jetzt gerade im Hinblick auf die Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes besser machen?
Die eben beschriebenen Fehler abstellen und ein handlungsstarkes und bundeseinheitlich reguliertes Krisenmanagement unter breiter beratender Einbeziehung der Zivilgesellschaft installieren.
Sollte nicht gerade in sächsischen Grenzregionen schnell durchgeimpft werden, auch wenn dadurch die Impfempfehlungen ausgehebelt werden?
Ich bin generell für eine Flexibilisierung der Empfehlungen der Ständigen Impfkommission mit Blick auf die jeweiligen konkreten Bedingungen der Impfstofflieferungen, der Wirksamkeiten der zur Verfügung stehenden Impfstoffe und der regionalen Lagen, wie z. B. der Alterszusammensetzung, der Grenzlage oder der Inzidenzwerte in den Regionen.
"Modellstädte weitgehend ausgereizt, missbrauchen teilweise sogar Maßnahmen-Lockerungen"
Könnten Sie sich in Sachsen mehr Modellstädte vorstellen wie in Augustusburg, Tübingen oder Rostock?
Ich habe das Gefühl, dass dieses Konzept der Modellstädte weitgehend ausgereizt ist und zum Teil sogar zur Lockerung von Maßnahmen missbraucht wird. Was wir jetzt brauchen, sind nicht mehr Modellstädte, sondern ein Lernen aus deren Erfolgen und eine Verallgemeinerung ihrer Politiken, Testkapazitäten und Impfstrategien.
Werden Sie von sächsischen Politikern um Hilfe gefragt bei der Beurteilung der sozialen Situation und Entwicklung der Zustimmung oder Ablehnung von Schutzmaßnahmen?
Nein, jedenfalls nicht regierungsseitig. Aber ich weiß, dass die Regierung, die Parteien und Verwaltungen wissenschaftliche Unterstützung erbitten und erhalten. Allerdings wünschte ich mir in der Tat eine Stärkung der sozialwissenschaftlichen Beratung. Die kommt mir noch zu kurz.
Titelfoto: Montage: dpa/Robert Michael, dpa/Sebastian Kahnert, Hochschule Zittau/Görlitz