Flüchtlingshelferin Sara Mardini im TAG24-Interview: Ihr drohen 20 Jahre Haft
Hamburg/Berlin - Weil sie im griechischen Flüchtlingslager Moria auf Lesbos humanitäre Hilfe leistete, drohen Sara Mardini (28) bis zu 20 Jahre Haft. Für die Dokumentation "Gegen den Strom" wurde Sara vier Jahre lang mit Kameras begleitet. Jahre, in denen sie auf ein gerechtes Urteil wartete. Im TAG24-Interview erzählt sie, wie es ihr inzwischen geht.
Als Saras jüngere Schwester Yusra (25) 2016 für das Refugee Team bei den Olympischen Spielen antrat, wurden die beiden Frauen mit ihrer Fluchtgeschichte über Nacht berühmt: Die syrischen Profischwimmerinnen flüchteten 2015 über das Mittelmeer. Als der Motor ihres überfüllten Schlauchbootes versagte, sprangen sie ins Wasser und hielten das Boot stundenlang auf Kurs, bis sie das rettende Ufer von Lesbos erreichten.
Ihre Geschichte wurde schließlich in dem Netflix-Drama "Die Schwimmerinnen" verfilmt und schließt dort mit einem Happy End: Sara kehrt nach Lesbos zurück und findet in der Flüchtlingshilfe ein neues Herzensprojekt.
Doch an der Stelle, wo der Spielfilm endet, setzt die Dokumentation "Gegen den Strom" von Filmemacherin Charly Wai Feldmann erst an.
Schnitt: Sara Mardini wird im Jahr 2018 in Griechenland verhaftet. Sie wird der Beihilfe zur illegalen Einreise, Geldwäsche und der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung beschuldigt.
Drei Monate sitzt sie im Hochsicherheitsgefängnis, bevor sie auf Kaution freigelassen wird. Da der Prozess immer wieder verschoben wird, befinden sie und ihre Mitstreiter sich seit sechs Jahren in einem Schwebezustand.
Sara Mardini: "Es gab einen Punkt, da verwandelte sich meine Angst in Wut"
TAG24: Sara, kannst du den Moment deiner Festnahme auf Lesbos noch einmal beschreiben? Wie ging es dir?
Sara Mardini: Als ich festgenommen wurde, war ich am Boden zerstört. Ich war total geschockt. Ich bin in Tränen ausgebrochen und habe gesagt: "Schickt mich nach Syrien zurück!" Denn ich habe realisiert: Ich habe mein Zuhause verlassen, weil es dort keine Gerechtigkeit gibt, und dann passiert in Europa dasselbe. Ich habe mich so gefühlt wie ein Kind, das erkennt, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt.
TAG24: Für die Dokumentation "Gegen den Strom" wurdest du nach deiner Festnahme vier Jahre lang begleitet. Wie unterscheidet sich die Sara vom Anfang des Films von der Sara von heute?
Sara Mardini: Der Film zeigt, wie verloren ich die letzten vier Jahre war. Am Anfang hatte ich noch Angst. Angst um mein Leben und davor, 20 Jahre ins Gefängnis zu gehen. Es war schrecklich, wenn ich darüber nachgedacht habe, ob es das letzte Mal sein könnte, dass ich meine Freunde sehe. Aber es gab einen Punkt, da verwandelte sich meine Angst in Wut. Und die Wut wurde bis heute zu meinem Antrieb.
TAG24: Noch immer wurde in dem Fall kein Urteil gesprochen. Wie schaffst du es, mit dieser Unsicherheit umzugehen?
Sara Mardini: In den letzten Monaten habe ich viel Therapie gemacht, auch um meine posttraumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Mental bin ich dadurch heute an einem viel besseren Punkt als noch während der Dreharbeiten – auch wenn sich die generelle Situation eigentlich nicht verändert hat. Aber ich bin mir sicher, dass ich nicht ins Gefängnis gehen werde. Denn sie können nicht beweisen, dass ich schuldig bin.
Sara Mardini will einfach nur ein normales Leben führen
TAG24: Wie können wir uns dein aktuelles Leben vorstellen? Hast du überhaupt so etwas wie einen Alltag?
Sara Mardini: Routinen habe ich noch keine. Aber ich schaue in die Zukunft, will etwas mit Musik oder Mode machen. Auch wenn es nicht einfach ist, wieder eine neue Leidenschaft zu finden. In Lesbos war ich so glücklich, weil ich endlich wusste, was ich machen wollte. Und dann – ohne Grund – wurde mir alles genommen. Als ich aus Syrien kam, musste ich schon einmal bei null anfangen. Jetzt hoffe ich, dass es das letzte Mal ist. Ich will einfach ein normales Leben führen.
TAG24: Nach deiner Flucht 2015 bist du in Berlin angekommen - was bedeutet dir die Stadt heute?
Sara Mardini: Berlin ist wie eine Hassliebe für mich. Es ist eine toughe Stadt. Aber sie entspricht wohl am ehesten meiner Persönlichkeit. Es ist mein Zuhause. Ich fühle mich endlich so, als würde ich irgendwo hingehören.
Der Dokumentarfilm "Gegen den Strom" kommt am Donnerstag, 23. März 2023, in die Kinos.
Titelfoto: DOCDAYS Productions / Safe Passage Films