Bundestag statt echtes Leben: Hattest Du nie andere Träume, Heidi Reichinnek?

Berlin - Weiter geht es mit unserer Reihe über Politiker, die es im jungen Alter schon in den Bundestag geschafft haben. Nachdem wir zuletzt mit Fabian Funke (24) von der SPD gesprochen haben, ist heute die Linke Heidi Reichinnek (34) an der Reihe. Wie sie eher zufällig in den Bundestag kam und was sie zuvor gemacht hat, könnt Ihr im folgenden Interview nachlesen.

Heidi Reichinnek ist seit Dienstag 34 Jahre alt, Linke-Mitglied und Abgeordnete des Wahlkreises Stadt Osnabrück.
Heidi Reichinnek ist seit Dienstag 34 Jahre alt, Linke-Mitglied und Abgeordnete des Wahlkreises Stadt Osnabrück.  © Eric Münch

TAG24: Flüchtlingsströme, Pandemien, Kriege ... jetzt auch noch in Europa. Warum will man heute noch Bundespolitiker werden?

Reichinnek: (lacht) Das ist eine sehr schöne Frage. Genau deswegen will man ja Bundespolitiker*in werden! Damit man für diese großen Herausforderungen sozialgerechte Lösungen schaffen kann. Und weil das bislang nicht so gut geklappt hat, bin ich jetzt hier.

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TAG24: Du bist die jüngste Abgeordnete Deiner Partei: Hattest Du je andere Träume als Karriere zu machen?

Reichinnek: Das ist so eine schöne Frage. Ja, ich hatte ganz andere Träume! Das ist ja alles eher per Zufall gekommen. Ich war bis vor kurzem noch pädagogische Mitarbeiterin in der Jugendhilfe und da auch sehr, sehr glücklich in meinem Beruf.

Aber ich bin seit September 2015 sehr aktiv in meiner Partei und habe da erst in meinem Kreisverband sehr viel gearbeitet, in der Linksjugend, dann bin ich Landesverbandsvorsitzende geworden und dann gab es eben die Möglichkeit, sich für den Bundestag zu bewerben, und dann habe ich gedacht:

"Warum nicht versuchen? Warum nicht mal das Thema Kinder- und Jugendpolitik und vor allem das Thema Jugendhilfe aus der Praxis in den Bundestag tragen?" Weil wir haben einen ganz großen Bedarf an Menschen, die aus der Praxis kommen. Und da dachte ich mir... "Das ist doch ein Job für mich!"

TAG24: Also hattest Du vorher einen "richtigen Job"?

Reichinnek: Ich hatte einen echten Job! Ich habe "wirklich gearbeitet"! Und das seit einigen Jahren. Das ist für mich das allerwichtigste, dass Menschen, die hierherkommen, die Alltagsprobleme der Leute mal erlebt haben. Probleme, Fragen, Sorgen kann man dann einfach viel besser nachvollziehen.

"Natürlich brauchen wir unbedingt auch junge Menschen, die unmittelbar von der Schulbank, aus der Uni oder auch aus der Ausbildung in den Bundestag kommen"

TAG24-Reporter Erik Töpfer (22, l.) und Politikredakteur Paul Hoffmann (29, r.) sprachen im Herzen von Berlin mit der Jung-Abgeordneten.
TAG24-Reporter Erik Töpfer (22, l.) und Politikredakteur Paul Hoffmann (29, r.) sprachen im Herzen von Berlin mit der Jung-Abgeordneten.  © Eric Münch

TAG24: Auf der anderen Seite hast Du viele Kollegen, die direkt von der Schulbank in den Bundestag gegangen sind und diese wahren Probleme nie kennengelernt haben. Das Parlament ist ja auch gut bezahlt ...

Reichinnek: Also natürlich brauchen wir unbedingt auch junge Menschen, die unmittelbar aus von der Schulbank, aus der Uni oder auch aus der Ausbildung – das fehlt im Übrigen noch massiv – in den Bundestag kommen. Weil die ganz andere Lebensrealitäten abbilden. Grundsätzlich haben wir einfach das riesige Problem, dass der Bundestag trotz seiner immensen Größe – über die man auch mal reden muss – die Gesellschaft nicht abbildet!

Das sieht man unter anderem daran, dass es nur 35 Prozent Frauen gibt, dass der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund zu gering ist und eben auch an der Alters- und vor allem Berufsverteilung. Also aus den Bereichen Soziales, Pflege und Theologie hat der Spiegel mal zusammengezählt, gibt’s im aktuellen Bundestag um die zwölf Leute. Das ist eine komplette Diskrepanz!

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Aber das liegt natürlich auch daran, dass man es sich leisten müssen kann, Politik zu machen. Damit meine ich nicht finanziell, sondern vor allem zeitlich! Wer von früh bis abends einem Job nachgehen und zwei Kinder beispielsweise versorgen muss, der hat wenig Zeit, sich ehrenamtlich zu engagieren und dann über dieses Ehrenamt in die hauptamtliche Politik zu kommen. Das ist ein großes Problem.

TAG24: Ist der Bundestag vielleicht zu "intellektuell"?

Reichinnek: (lacht) Wenn ich mir so manche Debatten anhöre ... Nein! Der Bundestag ist nicht zu intellektuell, er ist einfach nicht das Spiegelbild der Gesellschaft, der er sein sollte und das sieht man an so vielen Stellen. Intellektualität hat ja nichts mit einem Uni- oder Berufsabschluss zu tun - im Gegenteil. Es fehlt die Realität und der Alltag an vielen Stellen.

Das wollte die Linken-Abgeordnete als Kind werden

Als Kind träumte Reichinnek auch mal davon, Astronautin zu werden.
Als Kind träumte Reichinnek auch mal davon, Astronautin zu werden.  © NASA/ESA/dpa

TAG24: Was wolltest Du eigentlich als Kind werden?

Reichinnek: Ich wollte Ägyptologin werden. Ich fand als Kind das alte Ägypten sehr spannend. Mumien und den ganzen Kram. Das wollte ich immer machen. Ich hatte aber immer abstruse Berufswünsche. Später wollte ich dann Astronautin werden. Und dann wusste ich irgendwann nicht mehr, was ich werden will, weil es so unfassbar viele Angebote gibt.

Politik hat mich aber schon als Jugendliche interessiert. Die ganzen Prozesse, die vielen verschiedenen Themen... ich lieb es total zu diskutieren und mich mit Leuten auszutauschen. Aber dann wirklich aktiv in die Politik zu gehen, war keine bewusste Entscheidung. Das hat sich einfach ergeben.

TAG24: Und was machst Du, wenn es in vier Jahren nicht für die Wiederwahl reicht?

Reichinnek: Dann geh ich zurück in die Jugendhilfe, mach da meinen Job weiter und hab eine weitere Erfahrung gesammelt. Ich hoffe natürlich, dass wir in den nächsten Jahren mit besseren Ergebnissen in den Bundestag kommen und natürlich hoffe ich auch, dass mein Landesverband mich wieder auf die Landesliste wählt. Aber wenn das nicht klappen sollte, dann geht es wieder zurück und ich mache die Politik weiter ehrenamtlich.

TAG24: Wie setzt man sich als so junger Mensch gegen die festeingefahrenen Urgesteine der Partei durch, um in deine Position zu kommen?

Reichinnek: Also bei uns in der Linken werden unsere Listen nicht wie bei anderen Parteien vorgegeben. Jeder einzelne Listenplatz wird von der Vertreter*innen-Versammlung gewählt. Die einzige Vorgabe ist die Quotierung, also Mann-Frau im Wechsel. Auf dem Platz drei, auf dem ich war, hatte sich noch Pia Zimmermann beworben, unsere frühere pflegepolitische Sprecherin und eine sehr engagierte Genossin. Unsere Landesvertreter*innen-Versammlung hat sich für mich entschieden, darüber bin ich natürlich sehr froh. Scheinbar hat mein Ansatz, da ein bisschen frischen Wind reinzubringen und andere thematische Schwerpunkte zu setzen, ganz gut funktioniert.

Dafür klopft sich Reichinnek auch gern selbst auf die Schulter

Die Arbeit im Bundestag Berlin macht jeden Abgeordneten automatisch auch zu Chef eines kleinen Büros mit eigenen Mitarbeitern.
Die Arbeit im Bundestag Berlin macht jeden Abgeordneten automatisch auch zu Chef eines kleinen Büros mit eigenen Mitarbeitern.  © Paul Zinken/dpa

TAG24: Also hat die alte "Ochsentour" durch Partei und Würden bei den Linken ausgedient?

Reichinnek: Davon können wir uns nicht komplett freisprechen, das wäre vermessen. Natürlich haben wir Leute im Bundestag sitzen, die das jetzt schon in der vierten oder fünften Wahlperiode machen und solche Leute braucht man durchaus auch!

Die bringen unglaublich viel Erfahrung mit und können die weitergeben, sind gut vernetzt und kennen die ganzen Kniffs und Tricks, bei denen ich noch in jedes Fettnäpfchen laufe. Aber natürlich braucht es auch einen steten Wechsel, das muss man irgendwie austariert bekommen.

TAG24: Als Abgeordnete hast Du plötzlich Angestellte, die für Dich arbeiten, ein Wahlkreisbüro, das die "Marke Heidi Reichinnek" pflegt usw... Wie kommst Du mit dem jungen Chef-Sein klar?

Reichinnek: Das ist auch so eine Sache, auf die einen keiner so richtig vorbereitet. Ich bin sehr dankbar, dass ich mir ein super tolles Team zusammengestellt habe. Da kann ich mich ein bisschen selber auf die Schulter klopfen, dass ich eine so gute Menschenkenntnis habe. Das ist natürlich faszinierend, ich bin das gar nicht gewohnt!

Ich bin gewohnt, meinen Kram selbst zu organisieren, meine sozialen Medien selber zu bespielen und mich in alles selber reinzulesen. Ich habe ja vorher Kommunalpolitik fünf Jahre lang gemacht, wo ich in fünf verschiedenen Ausschüssen war, auch der Landesvorsitz ist bei uns ein Ehrenamt und plötzlich diese Unterstützung zu haben, ist toll.

Mein Ehrenamt als Landesvorsitzende hab ich natürlich trotzdem noch und da muss ich mich auch selber drum kümmern. Das ist quasi privat und die Trennung ist auch richtig so. Jetzt hat man aber auch die größere Herausforderung, die Leute erwarten mehr. Da ist es wirklich gut, diese Unterstützung zu haben.

Reichinnek: Sorge ganz gut dafür, dass man mich ernst nimmt

Bewegte Bilder vom Gespräch mit Heidi Reichinnek seht Ihr im Laufe des Tages auf dem TAG24 Deutschland Instagram-Kanal.
Bewegte Bilder vom Gespräch mit Heidi Reichinnek seht Ihr im Laufe des Tages auf dem TAG24 Deutschland Instagram-Kanal.  © Eric Münch

TAG24: Nimmt man Dich im Bundestag eigentlich ernst?

Reichinnek: Davon geh ich aus! (lacht) Ich glaube, dafür sorge ich gerade ganz gut. Natürlich sind wir als Linksfraktion mit 39 Leuten als Opposition gerade nicht die, die wirklich viel aktiv umsetzen können.

Die Gesetzesentwürfe kommen von der Regierung, werden bei denen durchgewunken und fertig ist. Aber bei meinem Platz im Familienausschuss bringe ich viel Expertise mit und da habe ich bislang immer das Gefühl gehabt, als Ansprechperson ernstgenommen zu werden. Ich denke, dass wird sich auch so weiter ausbauen.

TAG24: Funktioniert in diesen Ausschüssen die parteiübergreifende Zusammenarbeit?

Reichinnek: Das kommt ganz auf einen allein an. Ich bin ein sehr kommunikativer Mensch und mag den Austausch. Das merken die Leute dann und haben dann meistens mehr Interesse, sich auszutauschen. Klar, an vielen Stellen läuft man auch gegen Wände, weil da einfach die aktuelle Regierung in ihren Strukturen und Themen fest ist. Aber der Austausch funktioniert gut und der wird sich mit der Zeit auch gut aufbauen.

TAG24: Ist für Dich mit dem Einzug in den Bundestag "alles erreicht"? Oder unterhalten wir uns in einigen Jahren mit Spitzenkandidatin Reichinnek?

Reichinnek: Ach nein. Wir haben eine tolle Fraktionsführung und wir haben ein tolles Parteivorsitzenden-Duo. Ich bin wirklich dankbar, dass ich es bis hierher geschafft habe und will jetzt meine Arbeit erstmal gut machen. Wie es dann weitergeht... Das war bisher nicht durchgeplant und hat sich ganz gut entwickelt. Schauen wir mal, wo es noch hinführt.

Ich hoffe, dass ich die Chance habe, möglichst viele Menschen davon zu überzeugen, sich überhaupt erst für Politik zu interessieren, vor allem junge Menschen. Sie sollen das Gefühl haben: "Hey, da ist eine junge Politikerin, die interessiert sich für mich und reagiert, wenn ich sie anschreibe." Das ist mein Ziel.

TAG24: Bei all Deinen Plänen und Zielen und all den Sachen, die scheinbar alle gleichzeitig auf der Welt passieren... Wie verliert man denn nicht den Kontakt zu "seinen Leuten", zu seinen Wählern?

Reichinnek: Wir haben 22 Sitzungswochen, der Rest sind Wahlkreiswochen. Da soll man im Wahlkreis unterwegs sein. Ich komme zwar aus Osnabrück und war da auch aufgestellt aber wir sind ja drei Linken-Politiker*innen aus Niedersachen, das heißt irgendwo ist ganz Niedersachsen unser Wahlkreis und da versuch ich natürlich vor allem Osnabrück aber auch ringsum Gespräche zu führen mit Leuten und zu schauen, was gerade die drängenden Probleme sind. Das funktioniert nur, wenn man vor Ort ist.

In meinem Bereich, also Kinder-, Jugend- und Frauenpolitik, funktioniert es aber super, weil man immer sagen kann: "Hey, ich kenn das, ich hatte mal dieselben oder ähnliche Probleme wie Du." Da verliert man auch die Bodenhaftung nicht. Deswegen ist der regelmäßige Austausch von Leuten ganz wichtig.

Titelfoto: Eric Münch & Holm Helis

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