Ostbeauftragter Schneider ein Jahr im Amt: Dieser Unterschied zum Westen ärgert ihn noch immer
Berlin - Mit einer Tafel Zartbitterschokolade bedankte sich Bundeskanzler Olaf Scholz (64, SPD) am Mittwoch bei seinem Kabinett für ein Jahr Ampel-Regierung. Zu den Glücklichen gehörte auch Carsten Schneider (46, SPD), der vor zwölf Monaten den polarisierenden Marco Wanderwitz (47, CDU) im Amt des Ostbeauftragten ablöste. Wir haben mit ihm auf ein schwieriges Jahr zurückgeblickt.
TAG24: Herr Schneider, ein Jahr Ampelregierung: Wie hat die Schokolade des Bundeskanzlers geschmeckt?
Carsten Schneider: Ich habe sie noch gar nicht probiert, aber es war eine wirklich schöne Aufmerksamkeit des Kanzlers. Die Koalition steht auch in schwierigen Zeiten zusammen.
TAG24: Waren die vergangenen zwölf Monate für Sie denn so zartbitter wie die Schokolade oder war es überwiegend positiv?
Schneider: Persönlich war es ein positives Jahr. Ich habe viel Zuspruch erhalten und auch die Bereitschaft im Land gespürt, in und für Ostdeutschland die Ärmel hochzukrempeln. Aber all das ist natürlich extrem durch den Krieg in der Ukraine belastet und die damit einhergehenden Herausforderungen. Die haben dann auch einen Großteil der Arbeit bestimmt.
TAG24: War es denn in Anbetracht der Ereignisse überhaupt noch möglich, die eigene Agenda umzusetzen?
Schneider: Ja, das muss man. Für uns Sozialdemokraten war beispielsweise die Erhöhung des Mindestlohns ein ganz wichtiger Punkt. Durch sie bekommen in Ostdeutschland deutlich über 20 Prozent der Menschen nun mehr Geld. Ganz klar ist aber, dass insbesondere die Frage nach der Energieversorgung viel Aufmerksamkeit erfordert. Hier entstehen aber auch Chancen, etwa indem wir den Ausbau erneuerbarer Energien in Ostdeutschland vorantreiben und damit neue Arbeitsplätze schaffen.
Ostbeauftragter Carsten Schneider: Das war 2022 sein größter Erfolg und die schlimmste Niederlage
TAG24: Abseits der Energieproblematik: Was war im vergangenen Jahr Ihr größter Erfolg im Amt des Ostbeauftragten?
Schneider: Ich glaube, dass es kein politisches Vorhaben gibt, das nur auf eine Person zurückgeht. Positiv in Erinnerung geblieben ist mir aber die Ansiedlung von Intel in Magdeburg. Im Bereich der Halbleiterindustrie sind wir in Ostdeutschland Weltspitze. Dass Intel kommt, ist ein Signal des Aufbruchs.
TAG24: Drehen wir es noch einmal um: Was war die größte Niederlage?
Schneider: Keine Niederlage, aber ein Defizit: Noch immer haben wir nicht genügend Ostdeutsche in Führungspositionen. Das lässt zu wünschen übrig und muss sich endlich ändern! Deshalb beschäftigen wir uns in der Bundesregierung intensiv damit und werden Anfang des neuen Jahres ein Konzept dazu auf den Weg bringen.
TAG24: Und was genau soll dann in diesem Konzept drinstehen? Eine Führungsquote von Ostdeutschen?
Schneider: Ich bin gegen eine feste Quote. Aber mehr als 30 Jahre nach der Einheit sind die ca. 19 Prozent der Bevölkerung in Ostdeutschland bundesweit in allen Bereichen unterrepräsentiert. Das gilt für die Bundesverwaltung, aber eben auch für die Wirtschaft, Medien, Justiz und Wissenschaft. Das ist überhaupt nicht nachvollziehbar.
Natürlich stellt sich diese Frage auch für die Landesregierungen, denn sogar innerhalb Ostdeutschlands sind die Spitzenpositionen nicht angemessen mit Ostdeutschen besetzt. Die Sensibilität für diese Frage könnte bei vielen, die darüber entscheiden, höher sein.
Schneider kannte früher jeden Zeltplatz an der Ostsee
TAG24: Sie sind ja nun im letzten Jahr sehr viel durch das Land gereist. Haben Sie die Menschen im Osten noch besser kennenlernen können, als Sie die als gebürtiger "Ossi" eh schon kannten?
Schneider: Auf jeden Fall noch mal die regionalen Besonderheiten, die es überall so gibt. Natürlich kannte ich Ostdeutschland sehr gut, weil man in der ehemaligen DDR ja außer nach Tschechien nirgendwo anders hinreisen konnte. (Lacht) Da fällt mir gerade eine der lustigsten Geschichten des letzten Jahres ein…
TAG24: Erzählen Sie!
Schneider: Ich war in Stralsund bei einem Wirtschaftsempfang, als mich der Hauptgeschäftsführer fragte, ob ich die Gegend hier kennen würde. (Lacht noch lauter)
Da habe ich gesagt: Ich kenne hier jeden einzelnen Zeltplatz in Mecklenburg-Vorpommern, zumindest an der Ostsee. Wir mussten früher aller paar Tage die Zeltplätze wechseln, weil wir nur eine Kurzzeitgenehmigung hatten. Die Vorstellung fand ich schon amüsant, dass ein Thüringer wie ich die Ostsee nicht kennen könnte.
TAG24: Herr Schneider, vor wenigen Tagen haben Sie zu Kollegen von uns gesagt, dass die Ostdeutschen einfach zu leise seien. Was meinen Sie damit? Warum sind unsere Leser zu leise?
Schneider: Ich denke beispielsweise daran, dass man gewisse Dinge wie Führungspositionen manchmal auch einfordern muss. Man muss sich das zutrauen, muss das Selbstbewusstsein haben, sich nicht dominieren oder blenden zu lassen. Wissen Sie, man sollte sich selbst nicht überschätzen, obwohl wir Ostdeutschen eh nicht dazu neigen, aber auch nicht unterschätzen. Verantwortung muss übernommen werden wollen, der Wettkampf um die Macht und das Sagen im Land will gesucht werden.
Das ist der größte Wunsch des Ostbeauftragten für 2023
TAG24: Schauen wir noch mal explizit auf das anstehende Jahr: Was ist Ihr größter Wunsch für Ostdeutschland im Jahr 2023?
Schneider: Die Kostenbelastung, die durch die höheren Energiepreise für Gas und Strom entsteht, muss wieder auf ein normales Niveau sinken. Arbeitsplätze müssen erhalten bleiben. Und ich wünsche mir, dass die Bevölkerung optimistisch in die Zukunft schauen kann.
TAG24: Haben Sie Angst, dass - wenn man das nicht in Griff bekommt - es im Osten wieder zu unangenehmen Protesten kommen und dann auch die Pro-Ukraine-Haltung bröckeln könnte?
Schneider: Ich glaube, dass die Menschen hier schon sehr reflektiert sind. Es gibt natürlich solche und solche, aber es gibt kein anderes Land in der EU, das so viel Geld für den Schutz der Arbeitsplätze, die Abmilderung finanzieller Belastungen, aber auch für die Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung aufwendet. Natürlich hätten wir da als Regierung auch präziser und schneller sein können. Alles in allem glaube ich aber, dass die Bevölkerung unseren Kurs zu schätzen weiß und mitträgt.
TAG24: Vor einem Jahr haben Sie in unserem ersten Gespräch davon gesprochen, dass Sie Ihren eigenen Stil finden wollen. Ist das gelungen?
Schneider: Ich glaube, dass ich mich nicht groß verändert habe. Ich habe den Eindruck, dass die Tonlage gegenüber den Ostdeutschen nicht schwarz-weiß ist und ich die Besonderheiten der ostdeutschen Bevölkerung kenne. Die Menschen, die eine Diktatur erlebt haben, die sich in einer friedlichen Revolution erfolgreich befreit haben, verdienen für ihre Anstrengungen im Umbruch Respekt und Anerkennung.
Man sollte nicht alles schönreden, aber auch nicht den Kopf in den Sand stecken. Wir sollten immer versuchen, etwas aus uns zu machen. Wir sind eine der wirtschaftlich stärksten, kulturell reichsten und auch schönsten Gegenden in Deutschland und Europa. Wir haben jeden Grund für Selbstvertrauen.
Noch einmal zum Nachlesen: das große Antritts-Interview mit Carsten Schneider aus dem Januar.
Titelfoto: Norbert Neumann