Wegen "staatsfeindlicher Hetze" in Haft: Stasi-Opfer erzählt vom Schrecken der DDR

Hamburg/Lanzarote – 1983 in Ost-Berlin: Mit gerade einmal 19 Jahren wird Sybille Weser Gleich (58) von der Stasi auf offener Straße verhaftet. Der Vorwurf: staatsfeindliche Hetze. Die Realität: ein gestellter Ausreiseantrag. Ein halbes Jahr sitzt die gebürtige Leipzigerin in U-Haft, die schlimmste Zeit in ihrem Leben. TAG24 traf die Wahl-Spanierin bei der Hamburg-Premiere von Nicole Heinrichs Monodrama "Monika Haeger - Inside Stasi" und wollte mehr über ihre Geschichte erfahren.

Sybille Weser Gleich (58) mit ihrem Mann vor den Hamburger Kammerspielen. Sie gehörten zu den Premiere-Gästen von Nicole Heinrichs Monodrama "Monika Haeger - Inside Stasi".
Sybille Weser Gleich (58) mit ihrem Mann vor den Hamburger Kammerspielen. Sie gehörten zu den Premiere-Gästen von Nicole Heinrichs Monodrama "Monika Haeger - Inside Stasi".  © privat

Eigentlich wollte Sybille Weser Gleich nur ihre Daten für ihren laufenden Ausreiseantrag bei der "Ständige Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik" in Berlin abgegeben, den sie bereits mit 18 Jahren gestellt hatte.

Doch anstatt des erhofften Stempels erfolgte die Festnahme. Zusammen mit einer Freundin und einem Bekannten, der sich später als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Stasi entpuppte, ist die damals 19-Jährige abgeführt worden.

Zunächst ins Untersuchungsgefängnis in Berlin und nachts dann auf einer "gruseligen Fahrt" in zivilen Fahrzeugen der Staatssicherheit über die Transitstrecke zurück nach Leipzig.

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TAG24: Wissen Sie noch, wie Sie sich bei der Verhaftung gefühlt haben?

Weser Gleich: Ich war wütend und habe mich zu Tode erschreckt. Es war ein ganz gewaltiges und schnelles Unterfangen. Einer hat mir sogar noch den Ohrring herausgerissen. Die Männer waren geübt darin, dass es überhaupt kein Aufsehen gibt.

TAG24: Was denken Sie, war der Hauptgrund für Ihre Verhaftung?

Weser Gleich: Ich habe mich unter anderem gegen die Stationierung der SS20 eingesetzt, ich habe Plakate geklebt, ich war in bestimmten Gruppierungen, aber ich denke, der Hauptgrund war mein Ausreiseantrag. Ich gehöre aber zu den wenigen Menschen, die ihre Akten nicht eingesehen haben.

TAG24: Aus Angst?

Weser Gleich: Ja, ich hatte Angst, ich würde mich selbst heute viel hilfloser wahrnehmen, als ich mich damals wahrgenommen habe. Ich war unglaublich wütend zu dieser Zeit, das hat mir Kraft gegeben. Aber ich glaube, ich war in dem Moment extrem ausgeliefert, weil ich so jung war und viele Menschen auch gar nicht einschätzen konnte.

TAG24: Wurde Ihre ganze Familie bespitzelt oder nur Sie?

Weser Gleich: Nur ich. Ich war das schwarze Schaf der Familie (lacht).

TAG24: Waren Ihre Eltern "treue" DDR-Bürger?

Weser Gleich: Nein, aber sie waren ängstliche Menschen. Ich habe es als Kind noch erlebt, dass meine Eltern geflüstert haben, wenn es um Politik ging. Und das macht Kinder natürlich neugierig.

"Meine Freundin hat mich verraten!"

Sybille Weser Gleich mit 19 Jahren.
Sybille Weser Gleich mit 19 Jahren.  © Christiane Eisler

TAG24: Gab es einen bestimmten Moment, in dem Sie dachten, jetzt muss ich mich einsetzen?

Weser Gleich: Den gab es tatsächlich: Es war eine Hofpause in der Schule und wir sind in der Klasse herumgelaufen und haben Hasche [Fangen] gespielt. Das muss so sechste oder siebte Klasse gewesen sein. Und ich habe das Bild von Willi Stoph [ehemaliger Verteidigungsminister der DDR] von der Wand genommen und im Eifer des Gefechts aus dem Fenster geworfen.

Sofort wurde der Klassenraum von außen abgeschlossen sowie unsere Eltern angerufen und ein Riesentheater gemacht. Mich hat dieses Verhalten angespornt, mal genau nachzugucken, warum die alle so ein Theater gemacht haben.

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TAG24: Wie ging es nach ihrer Verhaftung weiter?

Weser Gleich: Meine Freundin und ich sind ins Stasi-Gebäude in Leipzig geführt worden, dort hing eine riesige DDR-Flagge und davor stand ein Soldat mit einem MG. Und da ist mir das erste Mal klargeworden, jetzt wird es ernst.

Ich wurde ewig verhört, ebenso meine Freundin. Der Vernehmer hat dann sogar noch zu mir gesagt: "Ja, Sie haben zwar den Beamten beleidigt (Ich habe so etwas wie 'Du Schwein, lass mich los' geschrien), aber ich glaube, das wird nicht so schlimm". Nach einer halben Stunde Warten, kam er wieder rein, legte ein neues Tonband ein und fing an, meine Verhaftung vorzulesen und dass der Staatsanwalt ein Jahr Freiheitsentzug beantragt hat.

TAG24: Was ist passiert?

Weser Gleich: Meine Freundin hat mich verraten. Mir wurden ihre Vernehmungsprotokolle vorgelegt, wo jede einzelne Seite unterschrieben war: "Ich habe gehört, dass Sybille das und das gesagt hat; Ich weiß, dass Sybille dies und jenes gemacht hat." Sie ist nach Hause gegangen und ich musste bleiben.

TAG24: War diese Freundin auch ein IM, haben Sie das im Nachhinein herausgefunden?

Weser Gleich: Bestimmt und wenn sie keiner war, ist sie in diesem Tag einer geworden.

Sybille Weser Gleich lehnte einen Anwalt ab und verteidigte sich selbst

Im Stasi-Museum in Leipzig sind die Zellen der Untersuchungsgefängnisse authentisch nachgebildet worden. "Inklusive der Seife", so Weser Gleich, die diese schon selbst zusammen mit ihrem Mann besucht hat.
Im Stasi-Museum in Leipzig sind die Zellen der Untersuchungsgefängnisse authentisch nachgebildet worden. "Inklusive der Seife", so Weser Gleich, die diese schon selbst zusammen mit ihrem Mann besucht hat.  © Detlef Berg/dpa/tmn

TAG24: War es in der DDR üblich, dass Ausreiseanträge in Verhaftungen endeten?

Weser Gleich: Für jeden Verhafteten gab es viel mehr Geld von der BRD als für die Ausgewiesenen. Damit hat sich die DDR Devisen beschafft, das war bekannt. Mein Anwalt hat damals zu mir gesagt, gehen sie doch ins Gefängnis, dann kommen sie schneller raus.

TAG24: Sie durften einen Anwalt haben?

Weser Gleich: Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass ich einen bekomme, ja. Ich habe diesen aber abgelehnt: Ich war so hartnäckig und engstirnig und wollte nicht für etwas ins Gefängnis gehen, was nicht strafrelevant ist. Ich habe mich selbst verteidigt und habe tatsächlich noch eine Berufungsverhandlung bekommen. Sie haben mich genau für sechs Monate verurteilt, das war die Zeit, die ich in U-Haft saß.

TAG24: Wie haben Sie die U-Haft empfunden?

Weser Gleich: Grauenhaft. Ich habe erst drei Tage ganz alleine in einer Zelle gesessen, das war ganz fürchterlich. Dann hatte ich aber das Glück, dass ich die Frau, zu der ich zugeschlossen worden bin, vom Sehen her kannte. Die Tür ging auf, der Wächter sagte "Gehen Sie rein", sie stand da, machte ihre Meldung und wir guckten uns an und ich habe gedacht: "Was für ein Glück!" Der Mann hinter mir fragte, ob wir uns kennen und wir beiden sagten "Nein". Die Frau, Christine, ist meine beste Freundin geworden.

TAG24: Wie muss man sich eine Stasi-U-Haft vorstellen?

Weser Gleich: Es ist wirklich wie in dem Film "Das Leben der Anderen": Man sieht niemanden über die ganze Zeit hinweg, selbst das Essen wurde über eine Klappe gereicht. Christine und ich haben uns mit ganz viel abgefahrenem Humor über Wasser gehalten. Ich hatte Tagträume, ich habe tagsüber mit offenen Augen den Wald gesehen. Das ist nach einer Weile wohl normal, hat mir mal ein Arzt erklärt. Wenn man die ganzen Reize nicht mehr hat, holt sich das Gehirn irgendwann die Farben aus der Erinnerung.

Angekommen im Gefängnis: "Ich hatte nicht mal mehr meine eigene Unterhose!"

Sybille 1986, kurz vor ihrer Ausbürgerung.
Sybille 1986, kurz vor ihrer Ausbürgerung.  © Christiane Eisler

TAG24: Haben Sie sich nach dieser schrecklichen Erfahrung Hilfe gesucht?

Weser Gleich: Ja, ich habe lange Therapie gemacht. Ich bin auch in Früh-Rente wegen posttraumatische Belastungsstörung. Leider gibt es bis heute noch oft Situation, wo ich denke "Was ist denn jetzt los? Es ist doch alles in bester Butter". Ich versuche mir dann zu sagen: "Moment, ich bin hier, es ist alles wunderbar und es gibt überhaupt keinen Grund nervös zu sein oder zu denken, ich habe irgendetwas falsch gemacht".

TAG24: Rührt diese Befürchtung, etwas falsch gemacht zu haben, daher, dass Sie unschuldig verhaftet worden sind?

Weser Gleich: Das kann ich mir gut vorstellen. Bei der Verhaftung wurde ich in eine Art Kanzel geführt, musste mich komplett nackt ausziehen und bekam diesen berühmten Trainingsanzug. Ich hatte nicht mal mehr meine eigene Unterhose. Ich glaube, ich habe als 19-Jährige nicht registriert, was für eine Erschütterung das gewesen ist. Ich kann mich aber an sehr, sehr große Angst erinnern!

Sybille Weser Gleich will ihre Geschichte erzählen, um andere Betroffene zum Reden zu bewegen und um über die totgeschwiegenen Folgen der SED-Diktatur aufzuklären. Wie ihr Leben nach ihrer Zeit in U-Haft in der DDR weiterging, lest ihr in Teil 2, der am 1. Juli erscheint.

Titelfoto: privat/Christiane Eisler

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