Haben junge Menschen keine Lust auf Arbeit? "Wir erleben eine Zeitenwende"
Leipzig/Berlin - Junge Menschen werden heutzutage gern als faul bezeichnet. Doch was ist dran am Klischee der arbeitsscheuen Jugend? Die MDR "Umschau" hat Jung und Alt zu Wort kommen lassen und die Gründe für die heutige Arbeitsmoral näher beleuchtet.
Tatsächlich hätten viele mittlerweile keine Lust mehr, ihr Leben der Arbeit zu widmen. "Die Work/Life-Balance wird einfach viel wichtiger." Viele würden es inzwischen nicht mehr einsehen, an dieser Stelle Opfer zu bringen, sagen auch Befragte in der "MDR Umschau".
Eine von ihnen ist Leonie Hesse (27), die als Krankenpflegerin in der Gynäkologie arbeitet. Bereits kurz nach der Ausbildung wechselte Leonie in eine Teilzeitstelle. Vollzeitarbeit komme für sie nicht mehr infrage.
"Meine Entscheidung resultierte daraus, dass ich festgestellt habe, dass mich eine Vollzeitstelle einfach zu sehr belastet und ich dadurch wenig Energie in meinem Privatleben übrig hatte." Seitdem sie weniger arbeitet, habe sie mehr Kraft für soziale Kontakte und Hobbys. Der Job mache ihr Spaß, aber Leben sei für ihre Generation eben mehr als nur Arbeit. Die finanziellen Einbußen nimmt sie dafür gern in Kauf.
Bei den Älteren treffen derlei Ansichten oft auf Ablehnung. So zum Beispiel bei Simone Schmollack, die aus der Generation der Baby-Boomer stammt und für die Berliner "TAZ" arbeitet. Schmollack habe mit Personalern gesprochen und dabei "die wildesten Geschichten" erfahren.
"Eine Personalerin hatte eine Bewerberin, die heute entscheiden wollte, ob sie morgen arbeiten kommt. So kann man nicht arbeiten. Welches Unternehmen kann so planen?", so die Journalistin.
Ökonom erklärt: Beschäftigte haben heute mehr Macht
Dass viele Jüngere heutzutage nur noch halbtags arbeiten wollen, sieht Schmollack als Utopie an.
"Die Generation der Baby-Boomer hat vielleicht zu viel gearbeitet, das will ich gar nicht bestreiten und das kritisieren die jüngeren Menschen auch zu Recht. Aber was ein Teil der Jüngeren jetzt fordert, diese radikale Arbeitsverkürzung, das mag man als schönen Wunsch haben, das ist aber gesamtgesellschaftlich betrachtet so gar nicht erfüllbar."
Tatsächlich scheinen es jedoch nicht nur die Jüngeren zu sein, die diesen Wunsch hegen. Einer Statistik der Umschau zufolge nimmt die Arbeitsmoral allgemein ab. Waren es 2019 noch 41 Prozent der Befragten, die ihre Arbeit wenn möglich aufgeben würden, stieg die Zahl 2022 auf 56 Prozent.
Jüngere würden heute immer mehr nach den Bedingungen fragen, unter denen sie arbeiten. Dass dies möglich ist, sei dem Ökonomen Prof. Marcel Fratzscher zufolge auf eine drastische Veränderung innerhalb der Wirtschaft zurückzuführen. "Wir erleben eine wirkliche Zeitenwende weg von einem Arbeitgeber-Markt hin zu einem Arbeitnehmer-Markt."
Als es eine hohe Arbeitslosigkeit gab, hätten sich die Unternehmen aussuchen können, wen sie einstellen. Dieses Blatt habe sich inzwischen jedoch gewendet. "In Zeiten des Arbeitskräftemangels bedeutet das gezwungenermaßen, dass Beschäftigte mehr Macht gegenüber ihren Arbeitgebern haben."
Einen Arbeitnehmer-Markt habe es schon einmal gegeben, zu Zeiten des Wirtschaftswunders in den 60er-Jahren. Damals fand der Markt mit Ölkrise und Co. jedoch ein schnelles Ende. Anders als in der jetzigen Zeit, in der sich die Lage sogar noch verschärfen könnte, wenn die Baby-Boomer in Rente gehen und der Bedarf nach Arbeitskräften noch weiter steigt.
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