85 Jahre nach der Pogromnacht: "Es ist etwas aus den Fugen geraten in diesem Land"
Berlin - Der Zentralrat der Juden hat Staat und Gesellschaft aufgerufen, in Deutschland ein Leben ohne Angst und Anfeindungen zu ermöglichen.
Beim Gedenken an die Pogrome der Nationalsozialisten vom 9. November 1938 würdigte Zentralratspräsident Josef Schuster (69) am Donnerstag, dass jüdisches Leben heute geschützt werde - anders als während der Gewaltwelle gegen Synagogen und jüdische Geschäfte vor 85 Jahren. "Aber wir wollen keine Schutzschilder", erklärte er in seiner vorab verbreiteten Rede. "Wir wollen frei leben in Deutschland, in unserem Land".
Schuster äußerte sich entsetzt über antijüdische Anfeindungen und antiisraelische Demonstrationen in Deutschland seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober:
"Wer verstehen will, warum der Terroranschlag auf Israel in der jüdischen Gemeinschaft auch in Deutschland tiefe Traumata, Ängste und Verunsicherungen hervorruft, der muss sich bewusst sein, was auch 85 Jahre nach der Reichspogromnacht in den jüdischen Seelen vorgeht, wenn wieder Davidsterne an Häuser von Juden gemalt werden, wenn wieder jüdische Geschäfte attackiert werden."
Er erinnerte an den versuchten Brandanschlag auf den Ort der Gedenkfeier, die Synagoge Beth Zion in Berlin-Mitte. Zwei Unbekannte hatten Mitte Oktober Brandsätze in Richtung des Gebäudes geworfen. Und er verurteilte, dass auf deutschen Straßen die Vernichtung Israels und die Auslöschung aller Juden gefordert worden sei.
"Es ist der Versuch, gezielt diese Ängste zu erzeugen", erklärte Schuster. "Auch um das zu verstehen, ist die Erinnerung und das Gedenken an den 9. November 1938 so wichtig."
Josef Schuster: "Es ist noch die Gelegenheit, dies zu reparieren"
Verstörend sei auch der Angriff einer wütenden Menge auf ein vermeintlich mit Juden besetztes Flugzeug in der russischen Republik Dagestan gewesen. Wäre eine solche Jagd auf Juden auch in Deutschland möglich?
"Vor fünf Wochen hätte ich Ihnen noch gesagt, dass ich mir das nicht vorstellen kann, heute bin ich mir dabei nicht mehr so sicher", erklärte Schuster. "Schutz kann nie absolut sein, bei allen Bemühungen."
Schuster verwies auf "eine Parallele in der Geisteshaltung" bei radikalen Islamisten und Rechtsextremen und geißelte auch die Verachtung für Lehren aus der Geschichte, die er bei linksextremen und linken Kreisen spüre.
Hinter vorgehaltener Hand sei Antisemitismus bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen.
"Es ist etwas aus den Fugen geraten in diesem Land", erklärte der Zentralratspräsident. "Es ist noch die Gelegenheit, dies zu reparieren, doch dafür muss man sich auch eingestehen, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist, was man nicht hat sehen können oder wollen."
Titelfoto: Daniel Karmann/dpa