Forscher warnt: "Eine existenzielle Gefahr für die menschliche Zivilisation"
Ein überaus düsterer Blick in die mögliche Zukunft der Menschheit: TAG24-Redakteur Florian Gürtler (45) stellt den Sammelband "3 Grad mehr. Ein Blick in die drohende Heißzeit und wie uns die Natur helfen kann, sie zu verhindern" vor.
München - Ein renommierter Forscher ist zutiefst besorgt: Der 62-Jährige sieht eine Zukunft voraus, die "voller Schrecken" für die Menschheit wäre - sogar "eine existenzielle Gefahr für die menschliche Zivilisation" hält der Wissenschaftler für möglich.
Die eindringliche Warnung stammt von dem bekannten Klima-Forscher Stefan Rahmstorf (62). Der Wissenschaftler vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) hat diesen düsteren Ausblick auf die Zukunft im Rahmen seines Aufsatzes "Klima und Wetter bei 3 Grad mehr" formuliert, dem ersten Kapitel des in diesem Juli erschienen Sammelbandes "3 Grad mehr. Ein Blick in die drohende Heißzeit und wie uns die Natur helfen kann, sie zu verhindern".
Forscher und Experten aus verschiedenen Disziplinen gehen im ersten Teil dieses Buchs der Frage nach, wie unsere Welt aussähe, wenn sie sich infolge des Klimawandels im globalen Mittel und im Vergleich zum Beginn der Industrialisierung um 3 Grad erwärmen würde.
Die Frage hat eine erhebliche Brisanz. Erst im letzten Jahr legte der Weltklimarat (IPCC) einen Bericht vor, in dem es unter anderem heißt, dass sich die globale Mittel-Temperatur bis zum Ende dieses Jahrhunderts um 2,1 bis 3,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau erhöhen könnte, wenn die Kohlenstoff-Emissionen bis 2050 einfach nur gleich blieben - das sogenannte Business-As-Usual-Szenario des IPCC.
Die Frage nach den Bedingungen einer 3-Grad-Mehr-Welt für die Menschheit ist also durchaus berechtigt.
Im ersten Teil des vom Münchener Oekom-Verlag herausgegebenen Sammelbandes wird das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Dabei richten sich alle Texte nicht an ein Fachpublikum. Die einzelnen Aufsätze sind so formuliert, dass Laien sie gut verstehen können, vermitteln aber zugleich ein breites Wissen rund um das Thema "Klimawandel".
Zugleich ist die dabei geschilderte Welt - die wie gesagt dem Business-As-Usual-Szenario des Weltklimarats entspricht - in der Tat "voller Schrecken".
Potenziell tödliche Hitzewellen in einigen Regionen der Welt
Wie Stefan Rahmstorf in seinem Aufsatz ausführt, erleben wir schon heute mit der Zunahme von massiven Hitzewellen und Dürren, Waldbränden, Starkregen und Flutkatastrophen die Auswirkungen einer lediglich 1,1 Grad wärmeren Welt.
"Drei Grad Erwärmung wären fast das 3-fache. Die Folgen wären allerdings erheblich schlimmer als nur das 3-fache der bisherigen Auswirkungen", schreibt der Forscher vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.
Neben extremer Hitze und Dürren zählt der Wissenschaftler auch eine drastische Zunahme von Extrem-Niederschlägen und tropischen Wirbelstürmen sowie einen dramatisch ansteigenden Meeresspiegel auf.
"Beim Meeresspiegelanstieg müssen unzählige Generationen nach uns unter den Folgen unserer heutigen Entscheidungen leiden. Und zwar nicht nur wegen eines höheren Meeresspiegels, an den man sich im Laufe eines Jahrhunderts anpassen könnte. Sondern weil der Meeresspiegel jahrhundertelang weiter steigen würde, bei 3 Grad Erwärmung um etwa einen Meter pro Jahrhundert, was die Küstenzonen der Erde erodiert, Strände wegspült, jede Infrastruktur mit ständig wachsenden Sturmflutrisiken bedroht und dauerhafte Küstenstädte, wie wir sie heute kennen, kaum mehr möglich macht", schreibt der 62-Jährige, der als einer der weltweit führenden Ozeanographen gilt.
In einigen Regionen der Welt könnte eine 3-Grad-Erwärmung zudem dazu führen, dass dort bei Hitzewellen zunehmend eine für Menschen lebensbedrohliche Kombination von hoher Luftfeuchtigkeit und extremer Hitze vorherrscht. Der Aufenthalt und die Arbeit im Freien sei dann mit großen Gefahren verbunden, was zu einem Problem etwa für die Feldarbeit in der Landwirtschaft werden könne.
Flucht-Bewegungen könnten die Stabilität ganzer Staaten gefährden
Andere Kapitel des ersten Teils von "3 Grad mehr" befassen sich mit den Gefahren für die Biodiversität, den konkreten Auswirkungen auf die Landwirtschaft und den ökonomischen Risiken in einer um 3 Grad erwärmten Welt.
Zudem gehen die Migrations-Expertinnen Mariam Traore Chazalnoel und Dina Ionesco der Frage nach, welche Auswirkungen ein derart drastischer Klimawandel auf die weltweiten Fluchtbewegungen hätte - und auch diese Aussichten sind furchteinflößend.
"Es wird prognostiziert, dass Millionen Menschen aufgrund der Auswirkungen des Klimawandels gezwungen sein werden zu fliehen", schreiben die beiden Autorinnen. An einer anderen Stelle ihres Ansatzes nennen sie die Zahlen von "30 bis 60 Millionen Menschen".
Etwas später heißt es in dem Kapitel: "Diese Zahlen zeichnen das Bild einer Welt, in der die klimabedingte Migration das Potenzial dazu hat, nicht nur den Alltag zahlloser Individuen zu beeinträchtigen, sondern auch die sozioökonomische Stabilität ganzer Staaten."
Mit anderen Worten, es könnten sich derart große Massen auf die Flucht begeben, dass nicht nur die Herkunft-Staaten, sondern auch die Ziel-Staaten der Flüchtlinge in ihrem Bestand gefährdet werden könnten - nicht umsonst warnt Stefan Rahmstorf in seinem vorangegangenen Aufsatz vor einer Gefahr für unsere gegenwärtige Zivilisation.
"Naturbasierte Lösungen": Bauen mit Holz als wichtiger Aspekt des Klimaschutzes
Im zweiten Teil des Sammelbandes gehen die Autorinnen und Autoren der Frage nach, mit welchen naturbasierten Maßnahmen die Menschheit auf die drohenden Gefahren einer 3-Grad-Welt reagieren könnte.
Dabei fällt auf, dass alle Aufsätze sich dem Thema widmen, wie das bereits in die Atmosphäre gelangte Treibhausgas Kohlenstoffdioxid (CO2) wieder aus dieser zu entfernen sei. Die Bereiche der Industrie und Energieerzeugung und die dort notwendigen Umstellungen auf CO2-arme oder CO2-freie Produktion werden hingegen nicht thematisiert.
Neben der Aufforstung von Wäldern und der Wiedervernässung von trockengelegten Mooren wird im zweiten Teil von "3 Grad mehr" auch die Humusanreicherung in Böden näher vorgestellt. Zudem lenkt der renommierte Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber (72) den Blick auf einen Bereich, den viele von uns wahrscheinlich nicht auf dem Schirm haben, wenn es um Klimaschutz geht: den Bausektor.
Heutzutage kämen knapp 40 Prozent der global ausgestoßenen Treibhausgase (vornehmlich CO2) beim "Bauen, Betreiben und Rückbau von Gebäuden und Infrastruktur zustande", referiert der 72-Jährige und folgert, dass der "Königsweg zum Klimaschutz" durch die Baustellen der Welt führe.
Zur Lösung schlägt der Forscher vor, den Bausektor grundlegend zu verändern, um künftig Holz als Rohstoff zum Bauen ins Zentrum zu stellen. Der Vorteil dabei: Das in den Gebäuden verbaute Holz würde Kohlenstoff langfristig binden, während gleichzeitig fortlaufend neue Bäume nachwachsen, um neuen Baustoff zu generieren, die zugleich ebenfalls CO2 aus der Atmosphäre entnähmen und für lange Zeit bänden.
Um diese Idee durchzusetzen, hat der 72-Jährige die Initiative "Bauhaus Erde" ins Leben gerufen, welche eine "Transformation der gebauten Umwelt innerhalb der planetaren Grenzen" fordert.
Eine "starke Politik" und Entlastungen für einkommensschwache Haushalte
Im deutlich kürzeren letzten Teil geht der Sammelband auf die Herausforderungen ein, welche der Klimawandel für die Politik und das gesellschaftliche Zusammenleben bedeutet.
Dabei steht am Anfang ein Aufsatz der Soziologin Jutta Allmendinger (66) und des Politologen Wolfgang Schroeder (62). Die beiden Sozialwissenschaftler fordern eine "starke Politik", die vor dem Hintergrund des Klimawandels "den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Blick behält, diesen stärkt und nicht gefährdet".
Insbesondere sollten Klimaschutzmaßnahmen unter der Maßgabe umgesetzt werden, dass "sozial schwächere entlastet und einkommenshöhere Gruppen stärker belastet" werden. Hierzu gehöre auch, "dass Gruppen, die den Klimawandel stärker als andere verursachen, höhere Kosten zu tragen haben" - womit Jutta Allmendinger und Wolfgang Schroeder ganz klar die Haushalte der Reichen und Hyperreichen meinen.
Für einkommensschwache Haushalte und Teile der unteren Mittelschicht müsse es jedoch Entlastungen geben, da klimapolitische Maßnahmen in diesen Schichten zu steigenden Kosten in den Bereichen Arbeit, Mobilität, Wohnen, Ernährung und Gesundheit führten.
Sollte die Politik diese Maßnahmen nicht umsetzen, drohe der Klimawandel die Scheren zwischen Arm und Reich "in wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen" weiter zu öffnen, was eine "sich vertiefende Spaltung" der Gesellschaft zu Folge hätte.
"3 Grad mehr"-Herausgeber Klaus Wiegandt: "Unzählige werden ihr Leben verlieren"
Das zweite Kapitel im dritten Teil des Sammelbandes ist auch das letzte Kapitel des Buches. Darin macht sich der Herausgeber Klaus Wiegandt (83, ehemals Vorstandssprecher der Metro AG), Gedanken über "Lösungsansätze" im Hinblick auf die drohende Klimakatastrophe, "ihre Finanzierbarkeit und die Macht der Zivilgesellschaft".
Am Beginn unterstreicht der 83-Jährige noch einmal die drohenden Auswirkungen einer 3-Grad-Mehr-Welt, die bereits Stefan Rahmstorf im ersten Kapitel als "existenzielle Gefahr für die menschliche Zivilisation" bezeichnete.
Klaus Wiegandt spricht von einer "verheerenden Zukunft" und schreibt weiter: "Der überwiegende Teil der Menschen wird von nie dagewesenen Einschränkungen ihrer Lebens- und Überlebensbedingungen betroffen sein, unzählige werden ihr Leben verlieren."
Um diese Zukunft zu verhindern, fordert der Ex-Manager neben allen anderen bekannten Maßnahmen zum Klimaschutz auch die Umsetzung der in dem von ihm herausgegebenen Band beschriebenen "naturbasierten Lösungen", da diese von der Politik bislang nur wenig beachtet würden, zugleich aber "sozialverträgliche sowie im Vergleich zu den drohenden Folgeschäden extrem kostengünstige Maßnahmen" seien.
Zur Finanzierung des Kampfes gegen den Klimawandel und seine Auswirkungen schlägt der ehemalige Vorstandssprecher der Metro AG vor, dass Deutschland einen Staatsfonds gründen solle, der ausschließlich für Klima- und Infrastruktur-Investitionen genutzt werden dürfe.
Das Geld für diesen Fonds könne laut Klaus Wiegandt über die Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf den Handel mit Aktien und Anleihen sowie eine veränderte Erbschaftssteuer (die nur reiche und sehr reiche Haushalte stärker als bisher belasten würde) eingetrieben werden.
Zugleich fordert der Herausgeber von "3 Grad mehr", dass Politik und Zivilgesellschaft endlich die realen Bedrohungen durch den Klimawandel zur Kenntnis nehmen und in einen Dialog darüber eintreten - was allem Anschein nach auch der Zweck ist, den der 83-Jährige mit der Herausgabe des Buches bezweckt.
"3 Grad mehr. Ein Blick in die drohende Heißzeit und wie uns die Natur helfen kann, sie zu verhindern", 347 Seiten, Oekom-Verlag 2022, ISBN 978-3-96238-369-5, 25 Euro.
Titelfoto: Ethan Swope/AP/dpa