Sind Kinderehen in Deutschland bald erlaubt?
Karlsruhe - Der Bundesgerichtshof (BGH) hält es für unvereinbar mit dem Grundgesetz, dass nach ausländischem Recht geschlossene Ehen mit Partnern unter 16 Jahren in Deutschland automatisch unwirksam sind.
Der für das Familienrecht zuständige XII. Zivilsenat legte daher einen Fall des Oberlandesgerichts (OLG) Bamberg nach einem Beschluss vom Freitag dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vor und setzte das Verfahren aus.
Der BGH-Senat sieht in dem Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen einen Verstoß gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes, darunter Artikel 1 (Menschenwürde) und Artikel 6 (Ehe und Familie) (XII ZB 292/16).
Am 22. Juli 2017 trat das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen in Kraft. Der damalige Justizminister Heiko Maas (SPD) hatte gesagt, Kinder sollten spielen, lernen und selbstständig werden. Wenn sie erwachsen seien, sollten sie frei entscheiden, ob und wen sie heiraten.
Hintergrund für die Entscheidung des BGH ist nun eine Entscheidung des OLG vom Mai 2016 über die Aufenthaltsbestimmung für eine damals 15-Jährige, die im Alter von 14 Jahren in Syrien mit ihrem volljährigen Cousin verheiratet worden war.
Die Ehe sei wirksam, urteilte damals das OLG. Daher dürfe das als Vormund bestellte Jugendamt nicht über den Aufenthalt des Mädchens bestimmen.
Die beiden jungen Syrer waren im selben Dorf aufgewachsen und hatten im Februar 2015 vor einem Scharia-Gericht die Ehe geschlossen. Sie flüchteten aus dem Bürgerkriegsland und kamen im August 2015 in Deutschland an.
In Aschaffenburg kam das Mädchen in die Obhut des Jugendamtes. Das Amtsgericht ordnete die Vormundschaft durch das Jugendamt an. Der Ehemann beantragte eine Überprüfung, woraufhin das Amtsgericht eine Umgangsregelung für die Wochenenden erließ. Eine Beschwerde dagegen wies das OLG zurück.
Das OLG hatte festgestellt, dass die Voraussetzungen für eine wirksame Eheschließung nach syrischem Recht vorgelegen hatten. Nach Überzeugung des BGH-Senats ist die Frage, ob die während des laufenden Verfahrens durch das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen geschaffene Regelung verfassungsgemäß ist, für die Entscheidung des Verfahrens erheblich.
Denn nur, wenn die Regelung gelte, sei die Rechtsbeschwerde des Vormunds (Jugendamt) begründet, argumentierten die Richter.
Mit den Flüchtlingen kommen seit 2015 auch die Kinderehen nach Deutschland. Betroffen sind längst nicht nur Kinder und Jugendliche aus weit entfernten Ländern, sondern auch EU-Bürger, wie eine Nachfrage beim Innenministerium zeigt: Die größte Gruppe bildeten 2018 Syrer (85 Fälle), gefolgt von Bulgaren (84), Griechen (23), Rumänen (21), Iraker (18) und Afghanen (16) - die restlichen Fälle werden nicht genauer aufgeschlüsselt.
Ein Ehepartner war nach offiziellen Angaben unter 16 Jahren alt, die übrigen waren 16 oder 17 Jahre alt - also trotzdem minderjährig. Dunkelziffer? Ungewiss. Auch eine Tendenz ist nur schwer absehbar.
Ein Problem sind fehlerhafte Einträge. "Wir bekommen immer wieder mit, dass es Fälle gibt, die gar nicht auffallen. Oft fehlen auch Papiere, ein Kind wird älter gemacht oder es gibt religiöse Ehen, die gar nicht amtlich dokumentiert sind", sagt Myria Böhmecke von der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes. Wir gehen davon aus, dass viele Geflüchtete inzwischen über soziale Medien von dem Gesetz gegen Kinderehen erfahren haben – und eine bestehende Ehe gar nicht mehr angeben."
Die Hürden für Betroffene dürften hoch sein. "Die Mädchen sind oft massiv abhängig von ihrem Ehemann und der Familie, gerade weil sie noch so jung sind. Sie wollen auch ihre Familie nicht verlieren. Andererseits wollen sie zur Schule gehen", sagt Böhmecke.
Sie berichtet von einem afghanischen Mädchen, das seine Ehe nicht angeben wollte. "Die hatte panische Angst, dass sie abgeschoben wird – und ihre Familie in Afghanistan sie umbringt."
Eine Zwangsehe kann ein Grund sein für Schutz in Deutschland. Eine Garantie gibt es aber nicht. "Allein die Eheschließung vor Eintritt der Volljährigkeit begründet per se noch keinen Anspruch auf Schutz nach dem Asyl- und Flüchtlingsrecht", erklärt das Justizministerium.
Generell ist das Jugendamt gehalten, alle Minderjährigen, die ohne Eltern oder andere Sorgeberechtigte nach Deutschland kommen, in Obhut zu nehmen - auch verheiratete Flüchtlinge. Die Behörde soll sie dann auch über die Rechtslage hierzulande aufklären.
"Man muss den Menschen ganz klar sagen: Das hat hier Konsequenzen", meint Böhmecke. "Das ist sexueller Missbrauch, sofern es um Mädchen unter 14 Jahren geht."
Titelfoto: Paul Zinken/dpa, Nicolas Armer/dpa