So hat uns das Blaue Wunder in den Knast gebracht
Dresden - In einer Nacht im September 1961 wollen drei Freunde die berühmte Brücke mit "Nieder mit Ulbricht" bepinseln, doch dann geht alles schief ...
Das Blaue Wunder kennt zahllose kleine und große Anekdoten. Drei Dresdner Freunde hätten über Jahre eine spannende Kriminalgeschichte beisteuern können. Doch sie schwiegen - aus Furcht vor dem DDR-Unrechtsstaat und nach der Wende aus Unsicherheit. Jetzt sagen drei Dresdner zum ersten Mal öffentlich: "Das Blaue Wunder hat uns in den Knast gebracht!"
Alles begann mit dem Mauerbau am 13. August 1961 durch Walter Ulbricht ("Niemand hat die Absicht..."). Vier Wochen später sollte die "Volkswahl" stattfinden und die Verhältnisse zementieren. Drei Dresdner Jungs wollten das nicht akzeptieren. "Wir mussten etwas machen. Wir wollten ein Zeichen setzen", erinnert sich Eberhard Haaser (heute 74).
Kurz vor der Wahl wollten die Freunde auf das Blaue Wunder weithin sichtbar mit 50 Zentimeter großen Buchstaben "Nieder mit Ulbricht" und "Weg mit dem Staatsrat" schreiben. Die Spruch stammte von Haaser, die Farbe rührte Klaus Schumann an. Der war Drogist im Geschäft seines Vaters am Blauen Wunder. Schmiere stehen sollte Lutz Kandler.
Kurz nach Mitternacht im Schutz der Dunkelheit schlichen Kandler und Haaser mit ihren Rädern zur Brücke. Weit weg vom Laternenschein kletterten beide auf die Brücke.
"Wir waren angespannt. Von meiner ersten Freundin hatte ich die FDJ-Bluse dabei. Die sollte bei meiner Ausrede, ich hätte 'es lebe der Sozialismus' schreiben wollen, helfen müssen", erinnert sich Haaser.
Während der gelernte Stahlbauschlosser im Dunklen über die Brücke kletterte, versteckte sich Kandler im rechten Brückenwärterhäusel, hoch oben auf dem Blauen Wunder, um zu warnen.
Doch dann ging alles schief: Regen setzte ein, spülte fast alle noch feuchten Buchstaben ab. Stehen blieb ganz dünn: "Nieder mit Ulbricht". Panisch flüchteten die Freunde in die Dunkelheit, warfen Farbe und Pinsel noch in die Elbe.
Am nächsten Morgen kam der Drogerie-Lehrling Schumann an die Brücke. "Ich dachte um Gottes willen, wenn dort nun Massen stehen und die Feuerwehr und Polizei, das überlebe ich nicht." Doch die Aktion war ohne große Aufmerksamkeit verpufft. Dennoch ermittelte längst die Stasi.
Die schlug drei Monate später erbarmungslos zu. Bei einer Hausdurchsuchung war durch Zufall die für einen zweiten Versuch angerührte Farbe gefunden worden. Alles flog auf - alle drei Jungs landeten im Stasi-Knast an der Bautzner Straße.
Nach der Wende wurden die drei Männer rehabilitiert, bekommen eine kleine Opferrente. Lutz Kandler arbeitet mittlerweile im Stasiknast als Zeitzeuge, bietet dort Führungen an. "Ich bin stolz, dass ich dabei war. Schon wenn ich davon rede, habe ich Gänsehaut."
Mittlerweile sind die Erinnerungen sogar im Stadtarchiv gelandet. Archiv-Direktor Thomas Kübler (53) traf sich mit den Brücken-Kletterern am Blauen Wunder: "Ein einmaliges, packendes, detailliertes und emotionales Dokument persönlichen Widerstandes in der DDR für das Zeitzeugenarchiv des Stadtarchives Dresden."
Das große Leiden im Knast
Was aus heutiger Sicht ein Dummer-Jungenstreich wäre, war für die DDR eine schwere "staatsgefährdender Propaganda". Entsprechend hart ermittelte die Stasi, entsprechend brutal schlug das System zu.
Eberhard Haaser wurde als "Haupttäter" ausgemacht. "Wir kamen auf die Bautzner Straße, mussten uns nackt ausziehen, danach ging es in die Zelle". Was folgte, war eine Leidensgeschichte. "Man konnte nur im Kreis laufen, irgendwann sah ich immer meine Nase." Hasse wurde zu zwei Jahren neun Monaten Zuchthaus verurteilt, kam danach ins Arbeitslager, lag mit schweren Verletzungen im Haftkrankenhaus.
Auch Hans Schumann, damals wie alle Beteiligten 17, erinnert sich: "Wir saßen am Mittagstisch als es klingelte. Meine Vater sagte: 'Hans komm mal her, es ist für dich. An der Tür standen zwei Männer mit Ledermänteln." Dann fiel der Satz: "Wir müssen den Jungen mal mitnehmen."
Auch Schumann landetet auf der Bautzner Straße. Es folgten endlose Verhöre. Seine prägendste Erinnerung: "Zu trinken gab es im Knast immer nur Wasser, ich sehnte mich so nach einer Pulle mit Margon-Sprudelwasser. Das wusste mein Vernehmer und hat das Wasser seelenruhig vor mir getrunken. Das Zischen hat mich fertig gemacht."
Lutz Kandler: "Das schlimmste waren die lauten Geräusche, wenn Wärter uns eingeschlossen haben."
Zeitzeugen führen Gäste durch Gedenkstätte Bautzner Straße
Die Gedenkstätte Bautzner Straße Dresden ist eine Gedenkstätte für die Opfer des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Sie ist die einzige noch im Original erhaltene und für Besucher zugängliche Untersuchungshaftanstalt der „Stasi“ im Freistaat.
Besichtigt werden kann unter anderem das sowjetische Kellergefängnis. Von dort führte der Weg meist in sowjetische Lager.
Im Herbst 1953 übergaben die Sowjets das Gelände an die Stasi. Bis ins Jahr 1989 waren an der Bautzner Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. 1994 wurde das Haus unter Denkmalschutz gestellt, 1997 öffnete die Gedenk-, Begegnungs- und Bildungsstätte.
Etwa zehn Zeitzeugen, darunter Lutz Kandler, führen durch die Ausstellung. Viele Schulklassen sind zu Besuch. Geöffnet ist täglich von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt kostet 6/3 Euro. Im letzten Jahr kamen 21.000 Besucher.
Titelfoto: Steffen Füssel