Der Tag, als die Dresdner die Stasi-Zentrale stürmten
Dresden - Wende, Mauerfall, Wiedervereinigung - die Geschichte der Friedlichen Revolution nehmen wir heute als straffe Abfolge wahr. Tatsächlich war die Lage vor 30 Jahren unübersichtlich, Ergebnisse nicht absehbar. Einzelne Ereignisse hatten auch Ende 1989 noch eine solche Brisanz, dass der Ausgang einem Wunder gleicht: die Besetzung der Stasi-Zentrale in Dresden.
Herbert Wagner (71, CDU) kommt oft in die Gedenkstätte Bautzner Straße. Der Nachwende-Oberbürgermeister ist Vorsitzender des Trägervereins; die Arbeit hier, die Führungen und Vorträge gern geübte Routine.
Doch wenn er 30 Jahre zurück denkt, ist er noch immer bewegt. Wagner blickt aus dem Fenster des Saals der "Bezirksverwaltung des MfS".
Der Blick geht auf den Hof. Dort drängten am Abend des 5. Dezember Hunderte bürgerbewegte Dresdner. Hinter den Fenstern die, die sie über Jahrzehnte überwacht, ausgeforscht und schikaniert hatten.
Die bislang undenkbare Besetzung folgte einem besonderen Umstand:
Seit Tagen sollte die Stasi Unterlagen schreddern. Und trotz bröckelnder Macht des Staatsapparates war nicht klar, was der Inlandsgeheimdienst hinter den Toren im Schilde führt.
Vaatz erstattete Anzeige gegen die Stasi
Zeitgleich drang vom Neuen Forum in Berlin die Kunde von Spannungen zwischen Volkspolizei und Stasi.
Also beschlossen Dresdner Bürgerrechtler nach der Montagsdemo am 4.12., die hiesige VP zu fragen, wie sie denn zur Stasi steht.
Unter ihnen Arnold Vaatz (heute 64, CDU). Gesagt, getan. "Und dabei erstattete Vaatz Anzeige gegen das MfS wegen des dringenden Verdachts der Sabotage. Da schlotterten einem die Knie". Denn noch nie hatte jemand gegen die Stasi Anzeige erstattet.
Daraufhin sagte VP-Chef Willi Nyffenegger: Wenn sich ein Militärstaatsanwalt findet, der einen Durchsuchungsbefehl unterschreibt, kommen wir.
Parallel meldeten Vaatz und Wagner am Vormittag des 5. eine Demo vor der Stasi für 17 Uhr an und starteten einen Aufruf via Sender Dresden.
Wagner: "Das war der Moment bei der Friedlichen Revolution, in dem ich die größte Angst hatte."
"Horch & Guck" im Bezirk Dresden ist entmachtet
Am Abend: Im Hof wird die Stimmung aggressiv. Dem Hausherrn gegenüber! Horst Böhm, 1937 in Zwickau geboren, ist der Shootingstar unter den Stasi-Statthaltern. Klug, hart, ein Bild von einem Mann.
Wagner: "Als die Situation brenzlig wurde, trat Arnold (Vaatz, d. Red.) auf die Balustrade und rief: ,Wer Gewalt anwendet, ist einer von der Stasi.'"
Es wird ruhiger. Menschen drängen nach. Der Knast im Gelände wird entdeckt, die Funkzentrale, erste Räume versiegelt.
"Wenn die Menschen in den Räumen Stasi-Leuten begegneten, fragten sie meist: ,Was machen Sie hier und wie viel verdienen sie?' Eine dritte Frage lautete ,Wie denken Sie, dass es weiter geht?'"
Wagner erlebte zwei Reaktionen auf die dritte Frage: "Die Stasi-Leute standen mit verschränkten Armen da. Und ihre Körpersprache sagte "Es kommt mal wieder andersherum ... Anderen aber war bewusst, dass es zu Ende ist." "Horch & Guck" im Bezirk Dresden ist entmachtet.
Brisant: Auf der anderen Straßenseite ebenfalls Geheimdienstler. Die Zentrale des KGB. Hinter dem Tor ein junger Offizier, der die andere Seite gut kennt: Wladimir Putin. Bis heute hält sich die von ihm verbreitete Legende, dass Besetzer auch dort Zutritt verlangten, er aber für diesen Fall mit Schüssen drohte.
Fakt ist: Die Waffenbrüder blieben ruhig.