"Tante E." holt Leipzigs Kids von der Straße: "Man kann nicht alle retten"
Leipzig - Es gibt wohl nur wenige Menschen in unserer schönen Stadt, die noch nie etwas von "Tante E." alias Gabi Edler (77), Initiatorin des Vereins Straßenkinder e. V. im Leipziger Osten, gehört haben. Seit 30 Jahren kümmert sie sich um die Straßenkinder unserer Stadt und hat auch schon die ein oder andere Erfolgsgeschichte vorzuweisen.
Seit Anfang der 1990er-Jahre hat es sich die ehemalige LVB-Straßenbahnfahrerin zur Aufgabe gemacht, die Menschen zu unterstützen, die von der Gesellschaft gern mal übersehen werden.
Im Interview, das in den Räumlichkeiten des Vereins nahe dem Friedrich-List-Platz stattfindet, erzählt sie, dass sie das erste Mal kurz nach der Wende Straßenkinder an westdeutschen Bahnhöfen gesehen habe. "Im Osten gab es sowas damals nicht." Doch auch in Leipzig ließ nach der Deutschen Einheit dieser Anblick nicht lange auf sich warten.
Ganz am Anfang, noch bevor sie den Verein gegründet hat, nahm Gabi Edler die Straßenkinder mit zu sich nach Hause, aus Mitleid, wie sie selber sagt. Teilweise hätten bis zu 20 Kinder in ihrer 56 Quadratmeter kleinen Wohnung übernachtet.
Da dies auf Dauer nicht möglich war, haben Kollegen ihr bei der Gründung des Vereins geholfen, dessen Quartier sich anfangs in Grünau befunden hat, jedoch bei einem Brand vollkommen zerstört wurde. Seitdem befindet sich der Verein in der Rosa-Luxemburg-Straße.
Nachdem sie in den Vorruhestand gegangen war, steckte sie ihre gesamte Abfindung in den Aufbau und Erhalt des Vereins. Viele Leute hätten das damals nicht verstanden, aber: "Du hast ja nicht von Anfang an Sponsoren", begründet sie.
Dafür gibt es heute unglaublich viele Menschen, ob Privatpersonen oder Unternehmen, die "Tante E." und ihren vier Mitarbeitern mit Spenden helfend zur Seite stehen, so zum Beispiel Porsche. Vor wenigen Wochen unterstützte aber auch RB Leipzig den Straßenkinder e. V. mit über 30.000 Euro aus einer Spendeninitiative. Der Verein finanziert sich heute ausschließlich durch Spenden.
Und auch so manchem deutschen Promi ist Gabi Edler sicher keine Unbekannte. Schon oft war sie im Fernsehen zu sehen und spätestens seit sie für ihr Engagement mit der Goldenen Henne ausgezeichnet wurde, ist sie eine kleine Berühmtheit. Ein Highlight war sicher die Einladung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier ins Schloss Bellevue im vergangenen Jahr.
"Tante E." hilft den Streetkids mit Mahlzeiten und Kleidung durch den Alltag
Der Verein hilft den Streetkids hauptsächlich damit, dass sie hier jeden Tag ein bis zwei Mahlzeiten bekommen, duschen und Wäsche waschen können. Zwischen 8 und 18 Uhr sind alle herzlich willkommen.
Die Lebensmittel, die sie benötigen, um alle zu versorgen, bekommen sie von Globus und Rewe. An vier Tagen in der Woche begeben sie sich auf Einkaufstour und holen Brot, Kuchen, Joghurt, Obst, Gemüse und vieles mehr von den Einzelhandelsketten ab.
Teilweise kochen die Mitarbeiter des Vereins die Mahlzeiten für ihre Schützlinge selbst, ab und zu bekommen sie aber auch schon fertig zubereitete Speisen, beispielsweise von Hotels.
Es sei schwer zu sagen, wie viele Straßenkinder diese Hilfe zurzeit in Anspruch nehmen. "Am Monatsanfang kommen weniger, ab Mitte des Monats, wenn das Geld alle ist, geht es erst richtig los", sagt Frau Edler. Die wenigsten wüssten, wie man mit dem wenigen Geld, das zur Verfügung steht, umgeht.
Unter den Kids, sogar weit über Leipzigs Grenzen hinaus, ist "Tante E." bekannt wie ein bunter Hund. Manchmal kämen sogar welche aus Frankfurt, Hannover oder anderen Städten. Die jüngsten sind 14, die ältesten 27 Jahre alt.
Auf die Frage, mit welchen Problemen ihre Schützlinge kämpfen, hält sich Gabi Edler relativ bedeckt. Doch bei fast allen gäbe es Schwierigkeiten mit den Eltern, oft auch mit Drogen und Alkohol. Die meisten haben nie richtig gelernt, wie es ist, ein "normales" Leben zu führen.
Alle seien ihr unglaublich dankbar und nehmen diese Hilfe im Alltag auch gern in Anspruch. Wer aber in seinem Leben etwas ändern wolle, müsse selbst auf sie zukommen, sie könne ja niemanden zwingen.
94 Lehrstellen, 94 Erfolgsgeschichten
Im Laufe der vielen Jahre hat sie schon vielen eine Wohnung oder Arbeit besorgen können. Auch wenn sich manche schwertun, einige haben es trotzdem geschafft. 94 jungen Menschen konnte Gabi Edler eine Lehrstelle besorgen. "Aus allen ist was geworden!", erzählt sie nicht ohne Stolz.
Es gibt also die ein oder andere Erfolgsgeschichte aus den letzten drei Jahrzehnten. Ein wenig in Erinnerungen schwelgend erzählt sie von ihrem allerersten Straßenkind, das heute in Leipzig ein eigenes Sportstudio betreibt.
Ein anderer war mit zwölf Jahren ihr Schützling, mit 16 begann er die von ihr organisierte Ausbildung zum Koch, heute betreibt er ein Restaurant in Bayern und ging vor einigen Wochen als Sieger der Vox-Sendung "Das perfekte Dinner" nach Hause.
Mit den Worten "Tante E., alle Liebe, die du mir gegeben hast, gebe ich dir jetzt zurück" habe er ihr, wie sie glücklich erzählt, seinen Gewinn aus der Show an den Verein überwiesen. "Da kann man nicht viel falsch gemacht haben", schmunzelt die 77-Jährige.
Ferienlager am Kulki fällt wegen Corona aus
Während der Zeit, in der die Corona-Pandemie den Alltag der Menschen bestimmte, hat sich für den Verein gar nicht so viel geändert. Dank einer Sondergenehmigung durfte er weiterhin öffnen, jedoch mit verkürzten Öffnungszeiten von 11 bis 14 Uhr.
So konnten sich dennoch alle mittags eine warme Mahlzeit gönnen und einen Beutel mit Abendbrot wurde den Kids trotzdem mitgegeben.
Seit vergangenem Mittwoch herrscht nun wieder Normalbetrieb und die jungen Leute können den ganzen Tag herkommen, auch um mal Wäsche zu bringen, die die Mitarbeiter für sie waschen. Es steht immer Kleidung im Tausch oder eben einfach kostenlos zur Verfügung. "Bei uns gibt es nichts, was verkauft wird! Bei mir gibt es hier alles umsonst!", erklärt Gabi Edler nachdrücklich. Es sei unmöglich, dass an mancher Stelle gespendete Sachen weiterverkauft werden, das käme für sie niemals infrage.
Große Kaufhäuser wie Galeria Kaufhof oder C&A spenden auch oft die Klamotten, die in der abgelaufenen Saison nicht verkauft worden sind. Aber jeder könne Kleidung an den Verein spenden, die Kids freuen sich über alles und sind nicht wählerisch.
Einziger Wermutstropfen ist, dass durch Corona eben große Projekte wie das Ferienlager für die Straßenkids am Kulkwitzer See nicht stattfinden dürfen.
Ihre größte Hoffnung für dieses Jahr ist, dass ihre Kinder-Weihnachtsfeier an der Angerbrücke wieder stattfinden darf. Im vergangenen Jahr hat sie mit einem großen Fest 186 Kinder der Arche und aus Kinderheimen glücklich gemacht. Ihre Straßenkinder, die sie auf der Straße liebevoll nur "Mutti" rufen, bekommen immer ihre eigene Feier im Verein an Heiligabend. Ein Stück Zuhause, das sie sich vermutlich sehnlichst wünschen.
Komplette Freizeit für die Kids: "Das macht nichts!"
Wie die Zukunft langfristig aussieht und wie lange sie es auch körperlich noch schafft, weiß Gabi Edler nicht.
"Wenn mir mal einer gesagt hätte, dass ich so lange arbeite, den hätte ich für verrückt erklärt", sagt sie lachend.
Obwohl sie von Mitarbeitern und Ehrenamtlichen unterstützt wird, gibt es derzeit niemanden, der für ihre Nachfolge infrage käme.
Ihr mache es nichts aus, ihre komplette Freizeit zu investieren, aber das könne man ja auch nicht von jedem in diesem Ausmaß verlangen.
So lange es ihr noch möglich ist, gibt es sicher immer etwas zu tun und wir können sicher sein, dass wir noch lange von Gabi Edler hören werden.
Die engagierte Frau weiß: "Man kann nicht alle retten", aber die Erfolgserlebnisse der Jahre und dass auch ab und zu noch ehemalige Straßenkinder auf ein "Hallo" vorbeikommen, scheinen eine große Motivation für sie zu sein.
Titelfoto: Bildmontage: Juliane Bonkowski / Straßenkinder e.V. (Facebook Screenshot)