Neue Details zu Tag X in Leipzig: Sachsen zahlt Millionen-Rechnung
Leipzig - Es ist die wohl umfassendste Bilanz des sogenannten "Tag X" in Leipzig: Am 3. Juni 2023 sollte es anlässlich der Urteilsverkündung gegen Lina E. (28) zu einer Großdemo in der Messestadt kommen. Wurde diese aus Sicherheitsgründen untersagt, kam es trotzdem zu Ausschreitungen und einem der größten Polizeieinsätze der Geschichte. Dazu hatte die Linksfraktion 200 Fragen an den Innenminister gestellt, die Armin Schuster (62, CDU) nun auf 80 Seiten beantwortet hat.
Noch Monate später bleibt die wohl umstrittenste Maßnahme der Kessel am Heinrich-Schütz-Platz: War zuerst von rund 1000 festgesetzten Demonstranten die Rede, wurde wenig später klar, dass es mit 1324 weitaus mehr waren, die teilweise dort bis zum frühen Morgen warten mussten.
"Durch die Polizei wurde die Anzahl der Personen innerhalb der Umschließung unzutreffend eingeschätzt", räumt Schuster ein, schätzt außerdem die Kommunikation mit den Gekesselten und Demo-Sanitätern als verbesserungswürdig ein.
Letzteren wurde der Zugang teilweise verweigert.
18.28 Uhr wurde der Kessel geschlossen, doch die Polizei begann erst 21.12 Uhr mit der Personalienaufnahme, die erst 5 Uhr morgens endete.
Dabei stellte sie 383 Handys sicher, wobei 22 dort zurückgelassen wurden. 107 Telefone wurden bereits wieder abgeholt, achtmal wurde auf die Abholung verzichtet, 58 Besitzer bekamen Post, dass sie ihr Telefon abholen können.
Einsätze rund um den "Tag X": 51 verletzte Polizisten, Strafanzeigen und hohe Kosten
Bei den Einsätzen rund um den "Tag X" wurden insgesamt 51 Polizisten verletzt, 48 davon mit direktem Bezug zum Einsatz.
Stationär behandelt werden, mussten drei Beamte. Gegen Polizisten selbst wiederum gab es 15 Strafanzeigen wegen Körperverletzung, Nötigung und Beleidigung.
Und was ist mit dem Verdacht, dass Autonome einem Polizisten die Radschrauben gelockert hätten? "Im Rahmen der Ermittlungen hat sich der Tatverdacht nicht erhärtet", so der Innenminister.
Das Ministerium beziffert den Sachschaden, der bei den Ausschreitungen zustande kam auf 190.000 Euro. Für den Polizeieinsatz haben die helfenden anderen Bundesländer bereits Rechnungen über 1,17 Millionen Euro gestellt, mit weiteren ist zu rechnen.
Eine Rechnung kam jedoch auch von den Leipziger Verkehrsbetrieben an die Polizei: Weil der Wasserwerfer im Gleisbett herumfuhr, blieben dort exakt 100.822,25 Euro Schaden zurück ...
Kommentar: Wichtige Fragen von Eric Hofmann
Brennende Barrikaden, fliegende Pflastersteine, sogar ein Brandsatz: Die Bilder der Ausschreitungen rund um den "Tag X" in Leipzig dürften wohl bei den Wenigsten Sympathie auslösen.
Hinzu kommen Gerüchte, wie das von der Deutschen Polizeigewerkschaft verbreitete, dass an einem Privatauto eines Beamten im Umfeld der Polizeidirektion die Radmuttern gelockert worden wären.
Ermittlungen ergaben, dass der Polizist im Urlaub, sein Auto deswegen gar nicht dort, sondern an seiner Wohnanschrift war.Bei all den tatsächlichen und nur ausgedachten Geschehnissen rund um die Ausschreitungen liegt der Reflex nahe, jede noch so harte Maßnahme gegen die Demonstranten zu rechtfertigen.
Dabei bleiben Fragen nach der Angemessenheit des mehr als zehn Stunden andauernden Kessels: Von den 1500 Demonstranten schätzte die Polizei selbst 1000 als friedlich ein, 200 als gewaltsuchend, 300 als gewaltbereit.
Können dann wirklich alle Gekesselten als Deckmasse betrachtet werden, die die Krawalle unterstützten? War es für friedliche Teilnehmer oder vielleicht sogar Passanten wirklich möglich, den Bereich noch zu verlassen, bevor es zu der Kesselung kam?
Das sind alles Fragen, deren Aufarbeitung wichtig ist. Dabei geht es nicht darum, mit Schmutz nach der Polizei zu werfen oder Steinewerfer zu verharmlosen: Es gehört zu einer Demokratie, dass Staatsgewalt immer auf ihre Notwendigkeit hinterfragt wird. Besonders dort, wo keiner so gern hinsieht, weil es die vermeintlich Richtigen trifft.
Nur so lässt sich eine Verselbstständigung vermeiden und der Rechtsstaat schützen. Auch der Polizist profitiert am Ende von transparenter Aufarbeitung eventueller Fehler. Dabei ist es egal, ob der Polizeiknüppel nun einen Autonomen oder einen Querdenker trifft - unter Kontrolle gehört immer das andere Ende, denn das hält der Staat im Auftrag aller seiner Bürger.
Titelfoto: Bildmontage: Ove Landgraf; Benedict Bartsch/xcitePress