Rechtsmediziner offenbart: Warum viele Morde unentdeckt bleiben
Leipzig - Im vergangenen Jahr starben mehr als 60.000 Menschen in Sachsen. Für jeden Verstorbenen muss auch hierzulande ein Totenschein ausgefüllt werden. Was nach Papierkrieg klingt, ist vor allem echte Detektivarbeit. So ist sich Dr. Carsten Babian (50), Rechtsmediziner an der Uni Leipzig, sicher: Jeder zehnte Totenschein ist fehlerhaft, bei der Hälfte davon die Todesursache falsch. Auch Tötungsdelikte könnten so unentdeckt bleiben.
Anders als uns Krimis im Fernsehen weismachen wollen, werden Morde nicht immer akribisch durch Forensiker und Gerichtsmediziner aufgeklärt.
Damit es nämlich überhaupt dazu kommt, muss zuerst ein Arzt feststellen, dass es sich um einen unnatürlichen oder unerklärlichen Todesfall handelt, erklärt Dr. Carsten Babian. Und genau das sei die Schwachstelle im System. Der Mediziner zählt mehrere Probleme auf:
- "Das eine sind unerfahrene Ärzte, die bisher wenige Leichenschauen selbst gemacht haben. Sie sind entsprechend unsicher. Aber der Gesetzgeber verlangt von allen Ärzten, dass sie eine Leichenschau durchführen können müssen."
- "Unangenehm sind Verstorbene, die schon etwas länger tot sind. Sprich: Die Fäulnis hat eingesetzt, die Leiche riecht komisch, sieht nicht mehr gut aus, sind Maden und Fliegen dran. Dann haben auch durchaus erfahrene Kollegen Scheu, sich der Leiche zu nähern. Das heißt, viele bleiben einfach drei Meter vor der Leiche stehen, werfen einen Blick drauf und schreiben Herzinfarkt auf den Totenschein."
- "Tote Kinder sind ein Problem, weil viele Ärzte auch Kinder haben und da springt dann ein emotionales Programm an. Man leidet mit den Eltern mit und konzentriert sich weniger auf die Leichenschau."
- "Auch äußere Umstände können manchmal sehr ungünstig sein. Ich habe schon Leichenschauen in Wohnungen gemacht, wo das Licht abgestellt worden war oder wo sich links und rechts an den Zimmerwänden der Müll gestapelt hat und man sich kaum bewegen und drehen konnte und die Leiche vielleicht noch unter Müllbergen lag."
- "Manchmal werden Leichenschauärzte vor Ort von der Polizei auch gedrängt. 'Das sieht doch aus wie ein natürlicher Tod. Da müssen wir doch keinen Aufriss machen.' Freundliches Drängen von Polizisten ist gelegentlich ein Problem."
Obduktionen werden nur in seltenen Fällen durchgeführt
Wie viele Totenscheine tatsächlich falsch sind, ist unklar. "Korrekt ausgefüllt sind aber sicher nur wenige Totenscheine. Das liegt auch daran, dass insbesondere der sächsische Totenschein sehr kompliziert aufgebaut ist", meint Babian. Dies seien dann vor allem formelle Fehler.
Aber: Auch gravierende Fehler, bei denen die Todesursache oder -art nicht stimmen, seien keine Seltenheit, "sicher die Hälfte der Fälle", glaubt er. "Man kann ja nur von außen auf den Körper schauen. Am Schluss sind es immer mehr begründete Vermutungen, die man auf den Totenschein schreibt", erläutert der Rechtsmediziner. "Eine sichere Klärung der Todesursache gelingt nur durch eine innere Leichenschau, also eine Sektion."
In Sachsen werde eine Obduktion aber nur in bis zu drei Prozent aller Sterbefälle durchgeführt.
Fachkräftemangel lässt Mörder entkommen
Fatal! Denn auch Tötungsdelikte blieben so häufig unentdeckt. "Es gab vor einigen Jahren mal eine große Dunkelfeldstudie. Mit dem Ergebnis, dass es pro Jahr in Deutschland etwa 1300 erkannte Tötungsdelikte und wahrscheinlich genauso viele oder sogar noch mehr unentdeckte Tötungsdelikte gibt", sagt Carsten Babian.
Doch womit kommen die Täter besonders häufig durch? "Ich denke, die Dunkelziffer ist bei Vergiftungen sehr hoch. Auch der geschulteste Leichenschauarzt hat da keine Chance".
Aber auch Tötungsdelikte durch Erwürgen, Erdrosseln, Erstechen und Erschießen würden nicht immer sofort erkannt werden, sondern zuweilen erst bei der zweiten Leichenschau im Krematorium. Bei einer Erdbestattung würde die hingegen entfallen.
Aber sollte man Stich- und Einschusswunden nicht eigentlich sofort erkennen? "Ja, sollte man. Aber dafür muss man die Leiche wirklich entkleiden. Das passiert nicht immer", weiß der Experte, der schon einiges erlebt hat. "Es gab auch Fälle in der Vergangenheit, wo der Täter so pfiffig war und einfach ein Pflaster über den Einschuss geklebt hat und dann guckt da keiner drunter und schon wird die Schussverletzung übersehen."
Dafür findet er klare Worte: "Also das sind tatsächlich Fälle, wenn man die übersieht, hat man seinen Job falsch gemacht." Dann würde ein Ordnungsgeld oder auch ein Ermittlungsverfahren drohen.
Viele Länder machen es besser als Deutschland
Doch Carsten Babian sieht vor allem den Gesetzgeber in der Pflicht. "In Österreich und vielen angloamerikanischen Ländern gibt es hauptamtliche Leichenschauärzte, die nichts anderes machen und dann sehr gut sind und eine viel höhere Trefferquote haben", nennt er ein Beispiel, wie es auch in Deutschland besser gemacht werden könnte. "Aber die müssten ja irgendwo angestellt und bezahlt werden und da ist keine Institution dafür zuständig."
Auch die für dieses Jahr geplante Novellierung des Sächsischen Bestattungsgesetzes, die noch auf sich warten lässt, würde diesbezüglich keine große Änderung bringen.
Titelfoto: Montage REMED Leipzig ; Fer Gregory