Mordanklage nach 49 Jahren: Polnische Ermittler spürten Stasi-Killer in Leipzig auf

Leipzig/Berlin - Es war ein eiskalter Auftragsmord: Am 29. März 1974 wurde der polnische Feuerwehrmann Czeslaw Kukuczka (†38) am innerdeutschen Grenzbahnhof Berlin-Friedrichstraße aus kurzer Distanz von hinten erschossen. Jahrzehntelang galt der Fall als nicht klärbar, blieb der Täter unbekannt. Doch jetzt hat die Staatsanwaltschaft Mordanklage erhoben - gegen einen 79-jährigen Leipziger, der im Auftrag der Stasi getötet haben soll.

Die im Volksmund "Tränenpalast" genannte ehemalige Ausreisehalle am Grenzbahnhof Berlin-Friedrichstraße. Von hier fuhren S- und U-Bahnen nach West-Berlin.
Die im Volksmund "Tränenpalast" genannte ehemalige Ausreisehalle am Grenzbahnhof Berlin-Friedrichstraße. Von hier fuhren S- und U-Bahnen nach West-Berlin.  © IMAGO / Funke Foto Services

An jenem Freitag im März 1974 war Czeslaw Kukuczka mittags in der polnischen Botschaft in Ost-Berlin aufgetaucht. Dort forderte der Feuerwehrmann aus Jaworzno seine sofortige Ausreise in den Westen und drohte mit einem Sprengsatz, den er angeblich in seiner Aktentasche habe. Ein Bluff, wie sich später herausstellte.

Die polnischen Sicherheitskräfte informierten sofort ihre Kontaktleute im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Schon bald erschienen Stasi-Offiziere in der polnischen Vertretung, die den Fall übernahmen.

Aus alten MfS-Akten geht hervor, dass sie Kukuczka nach mehrstündigen Verhandlungen die Ausreise nach West-Berlin zusicherten und zum Schein entsprechende Dokumente aushändigten.

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Anschließend wurde der Pole von einem Stasi-Oberstleutnant zum Grenzbahnhof Friedrichstraße gefahren. Nach einer fiktiven Grenzkontrolle in der im Volksmund "Tränenhalle" genannten Abfertigungshalle ging er in Richtung Grenzübergang.

Plötzlich trat - von Kukuczka unbemerkt - ein Mann in langem Mantel und getönter Brille aus einem Versteck hervor, richtete eine Pistole auf den Polen und feuerte ihm aus zwei Metern Entfernung in den Rücken.

Der Grenztunnel im Bahnhof Friedrichstraße - hier wurde Czeslaw Kukuczka (†38) am 29. März 1974 hinterrücks erschossen.
Der Grenztunnel im Bahnhof Friedrichstraße - hier wurde Czeslaw Kukuczka (†38) am 29. März 1974 hinterrücks erschossen.  © dpa/Eberhard Klöppel

Heute 79-Jähriger aus Leipzig sollte den Polen "unschädlich" machen

Abfertigungshäuschen der DDR-Grenzorgane am Übergang Friedrichstraße - ein Bild von 1964.
Abfertigungshäuschen der DDR-Grenzorgane am Übergang Friedrichstraße - ein Bild von 1964.  © DPA

Kukuczka starb kurz darauf im Stasi-Krankenhaus Hohenschönhausen. Ein minutiös geplanter Mord. Selbst Reinigungskräfte standen während der Tat im Hintergrund bereit, um sofort die Blutspuren zu beseitigen.

Immerhin war der Bahnhof Friedrichstraße einer der am meisten frequentierten innerdeutschen Grenzübergänge.

Jahrzehntelang galt der Auftragskiller als nicht identifizierbar. Die deutschen Behörden, die jahrzehntelang gegen Unbekannt ermittelt hatten, stellten Ende 2005 das Verfahren gar ein.

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Doch polnischen Ermittlern und Rechercheuren vom dortigen Institut der nationalen Erinnerung (INR) gelang 2021 der Durchbruch. In alten Geheimdienst-Akten stießen sie auf Manfred N., einen heute in Leipzig lebenden Rentner.

Zur Tatzeit soll er als MfS-Leutnant einer "Operativgruppe" angehört haben, die für die Stasi in Berlin Spezialaufträge ausführte. Der damals 31-jährige Beschuldigte sei mit der "Unschädlichmachung" des Polen beauftragt worden, erklärte der Berliner Oberstaatsanwalt Sebastian Büchner am gestrigen Donnerstag.

Sebastian Büchner, Sprecher der Staatsanwaltschaft Berlin, informierte am Donnerstag über die Anklageerhebung im Fall des Stasi-Mordes. Verdächtig ist der heute in Leipzig lebende frühere Stasi-Offizier Manfred N. (79). (Archivbild)
Sebastian Büchner, Sprecher der Staatsanwaltschaft Berlin, informierte am Donnerstag über die Anklageerhebung im Fall des Stasi-Mordes. Verdächtig ist der heute in Leipzig lebende frühere Stasi-Offizier Manfred N. (79). (Archivbild)  © Wolfgang Kumm/dpa

Erst Mord, dann Auszeichnung mit Verdienstorden

Er wollte in die USA auswandern: Diese historische Aufnahme zeigt das spätere Mordopfer Czeslaw Kukuczka (l.) beim Schachspiel auf der Feuerwache.
Er wollte in die USA auswandern: Diese historische Aufnahme zeigt das spätere Mordopfer Czeslaw Kukuczka (l.) beim Schachspiel auf der Feuerwache.  © INR

Aus den Stasi-Akten geht hervor, dass Manfred N. nach dem Mord an Kukuczka mit dem "Verdienstorden im Kampf für Volk und Vaterland" in Bronze ausgezeichnet und zum Gruppenführer der Stasi-Spezialeinheit befördert wurde.

Bereits 2021 erließ ein Gericht in Posen internationalen Haftbefehl gegen den Sachsen. Doch die deutschen Behörden lieferten ihn nicht nach Polen aus, sondern ermittelten nun selbst wieder.

"Wenn in Deutschland ermittelt wird, werden Beschuldigte nicht ausgeliefert", erklärte Oberstaatsanwalt Büchner TAG24.

Trotz des Mord-Vorwurfs ist der mutmaßliche Stasi-Killer bis heute auf freiem Fuß. Angeklagt wurde er nun am Landgericht Berlin. Die Kammer hat allerdings noch nicht entschieden, ob die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen wird.

Titelfoto: Bildmontage: dpa/Eberhard Klöppel, IMAGO / Funke Foto Services

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