Sexuelle Übergriffe auf Festivals: Mit diesem Codewort bekommst Du Hilfe
Nürnberg - Tausende Fans feiern ausgelassen auf einem der größten Metal-Festivals in Deutschland vor der Bühne - und mitten unter ihnen werden fünf Frauen Opfer sexueller Gewalt. Eine im Gedränge, vier beim "Crowdsurfing", also als sie sich von der Menge über die Köpfe der Menschen hinwegtragen lassen.
Feierende sollen diese Situation beim "Summer Breeze" gezielt ausgenutzt und die Frauen unter der Kleidung unsittlich berührt haben, wie die Polizei es nennt. In einem Fall sprechen die Ermittler sogar von Vergewaltigung.
Der Veranstalter Silverdust macht die Vorfälle noch während des Festivals im bayerischen Dinkelsbühl im August über die sozialen Medien öffentlich - auch um den Tätern zu signalisieren, "dass solches Verhalten bei uns nicht stillschweigend geduldet wird", wie Sprecher Alex Härter erläutert.
Vorfälle dieser Art seien aus früheren Jahren nicht bekannt. Doch Einzelfälle sind es nicht. Immer wieder gibt es sexuelle Übergriffe auf Musikfestivals - von grober Anmache über Grapschen bis zur Vergewaltigung.
So sollen 2017 vier Frauen auf dem Bråvalla-Festival in Schweden vergewaltigt worden sein, eine davon sogar während eines Konzerts in der Zuschauermenge. Dazu kamen zahlreiche Anzeigen wegen sexueller Belästigung. Auch das Schlossgrabenfest in Darmstadt geriet 2016 und 2017 wegen sexueller Übergriffe in die Schlagzeilen.
"Sexuelle Übergriffe sind ein gesamtgesellschaftliches Problem, deshalb findet man diese auch auf Festivals", sagt Céline Sturm von der Opferschutzorganisation Weißer Ring. "Dort kommen sehr viele Menschen an einem Ort zusammen, allein das erhöht die Wahrscheinlichkeit."
Dazu komme Alkohol, der die Hemmschwelle herabsetzen und Opfer orientierungslos machen könne. Gleiches gilt auch für Volksfeste, Fußballspiele und andere großen Veranstaltungen.
Volksfeste, Fußballspiele, Konzerte: Wo viele Menschen zusammenkommen, kommt es auch zu Übergriffen
Wie oft sexuelle Übergriffe auf solchen Massenspektakeln vorkommen, können auch Fachleute wie Sturm wegen der hohen Dunkelziffer nicht sagen.
Einen Anhaltspunkt könnte eine Studie des Kommunikationspsychologen Daniel Brunsch mit dem Verein Act Aware geben, in der rund 8000 Menschen bundesweit zu ihren Erfahrungen mit Diskriminierung und Grenzüberschreitungen - wozu auch sexuelle Gewalt zählt - auf Veranstaltungen befragt wurden.
"Mehr als 30 Prozent haben angegeben, dass sie in den letzten Jahren Übergriffe erlebt haben", sagt Brunsch. "Wir haben aber auch herausgefunden, dass die meisten Leute darüber gar nicht mit den Verantwortlichen der Events sprechen."
Doch mit den Debatten über Sexismus, Rassismus und Diskriminierung gewinnen diese Themen immer mehr an Bedeutung - und dem könnten sich auch Veranstalterinnen und Veranstalter nicht entziehen, sagt Brunsch.
Viele große Musikfestivals haben inzwischen sogenannte Awareness-Konzepte, die für einen respektvollen Umgang miteinander sensibilisieren wollen.
"Im Festivalbereich merken wir, dass eine Bewegung dahin passiert und viele aufspringen", sagt Brunsch, der mit seinem Team auf Festivals im Einsatz ist und diese berät.
"Panama": Hilfe bei sexuellen Übergriffen auf Festivals
"Wo geht’s nach Panama?" - mit dieser Frage können Menschen ähnlich wie bei der Frage nach "Luisa" in Clubs und Bars auf mehreren Festivals in Deutschland, darunter "Hurricane" in Niedersachsen, "Southside" in Baden-Württemberg und "Tempelhof Sounds" in Berlin, signalisieren, dass sie Hilfe brauchen.
"Und zwar in allen Situationen, in denen Menschen sich unwohl fühlen - seien es gesundheitliche Beschwerden, Überforderung oder andere Menschen, die einer Person zu nahe kommen", sagt Katja Wittenstein vom Veranstalter FKP Scorpio, der das "Panama"-Konzept 2017 auf seinen Festivals in Deutschland eingeführt hat.
Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf den Festivals sind ihren Angaben nach mit dem Codewort vertraut und helfen, ohne Nachfragen zu stellen. Oft falle es Menschen leichter, ein Codewort zu sagen, als direkt um Hilfe zu bitten, sagt Wittenstein. Auch die Expertin Sturm vom Weißen Ring hält solche Codewörter für hilfreich. "Bei Sexualdelikten braucht man niedrigschwellige Angebote, wo man sich nicht groß erklären muss."
Fachleute wie Brunsch haben die Erfahrung gemacht, dass Schutzkonzepte auf Festivals wirken. "Wir stellen fest, dass sich die Leute trauen, Übergriffe zu berichten, weil es eine Anlaufstelle gibt." Ein wichtiger Baustein sei aber auch die Prävention.
"A-Teams" und Schutzräume sollen Festivals sicherer machen
So waren bei "Rock im Park" in Nürnberg in diesem Jahr erstmals "Awareness"-Teams, kurz "A-Teams", auf dem Gelände unterwegs, um den Feiernden Denkanstöße zu Sexismus, Homophobie, Rassismus zu geben. Diese wandten sich aber auch über die Bildschirme an den Bühnen, Lautsprecher und die sozialen Medien an die Besucherinnen und Besucher, um diese an wichtige Werte im Umgang miteinander zu erinnern.
Einen Bereich für alle, die sich als Frauen identifizieren, den das berühmte Glastonbury-Festival 2016 eingeführt hat, lehnt der Veranstalter von "Rock im Park" dagegen ab. "Das gesamte Festivalgelände soll ein Ort sein, an dem sich alle Menschen wohl- und sicher fühlen können", sagt Julia Popp von Argo Konzerte.
Bei FKP Scorpio sieht man solche geschützten Räume als eine Option. "Aber auch diese müssen in ein Gesamtkonzept eingebettet sein, in dem unter anderem auch weitergedacht wird, was ist, wenn dieser Raum wieder verlassen wird", sagt Sprecherin Wittenstein.
Titelfoto: Daniel Karmann/dpa