"Fahrradgate"-Prozess: Wie ein grün-weißes Kinderrad einen der größten Polizei-Skandale einleitete
Leipzig - Er gilt als einer der größten Korruptionsskandale der sächsischen Polizei: Jahrelang sollen sich Polizisten, deren Freunde und Verwandte sowie Justizangehörige aus der Asservatenkammer der Leipziger Direktion an sichergestellten Fahrrädern bedient haben. Knapp fünf Jahre nachdem der illegale Handel aufgeflogen war, begann am Dienstag der Prozess gegen die mutmaßliche Organisatorin. Und das mit Überraschungen.
Sie ist eine eher unscheinbare Person: Klein, etwas mollig, die Haare dunkelrot gefärbt, sitzt Anke S. (47) im mausgrauen Kapuzenpullover auf der Anklagebank. Meist mit verschränkten Armen verfolgt sie den rund viereinhalbstündigen (!) Anklagevortrag der Generalstaatsanwaltschaft.
Die beiden Staatsanwälte beschreiben jedes einzelne der 265 Fahrräder, welche die heute suspendierte Polizeihauptmeisterin zwischen August 2014 und November 2018 aus der Asservatenkammer der "Zentrale Bearbeitung Fahrradkriminalität" (ZentraB) geholt und an Freunde, Kollegen und deren Familien verkauft oder verschenkt haben soll.
Auch ein Zweiradhändler soll ordentlich vom illegalen Handel profitiert haben.
Mal 20, mal 30, in der Regel aber 50 Euro nahm die Beamtin laut Anklage pro Drahtesel entgegen. Insgesamt soll sie 4795 Euro vereinnahmt haben. Manchmal wurde auch getauscht. Ein Eisenwarenhändler soll der Rad-Dealerin in Uniform als Gegenwert einen Gartenpavillon samt Heizstrahler überlassen haben.
Ein Freundschafts-Stempel im Dauereinsatz
Angefangen hatte alles am 1. April 2014 – als sich die ZentraB-Beamtin für ihre Tochter ein grün-weißes Kinderfahrrad aus der Asservatenkammer mopste. Mit einem selbst besorgten Stempel des Pegauer Gartenvereins "Freundschaft" deklarierte sie das Ganze als Spende.
Denn die zumeist nach Diebstählen sichergestellten Fahrräder, die entweder herrenlos oder von Versicherungen abgeschrieben waren, durften nur an gemeinnützige Vereine gespendet werden.
Beim "Freundschaft e.V." handelte es sich um eine aus gerade mal zehn Parzellen bestehende Mini-Gartensparte in Pegau, dem Heimatort der Angeklagten. Vorsitzender war der Vater von Anke S. Und der Freundschafts-Stempel war fortan im Dauereinsatz.
Denn schnell sprach sich Ankes "Fahrradstadel" innerhalb der sächsischen Polizei herum – Kunden kamen sogar aus dem Landeskriminalamt.
Unglaublich: Laut Anklage sollen sich auch Diebstahls-Ermittler sichergestellte Fahrräder aus ihren eigenen Verfahren bei Anke S. reserviert haben.
Anklage: Polizistin wollte ihr Ansehen unter Kollegen steigern
Und noch eine weitere Überraschung hält die Anklage bereit: Den Ermittlungen zufolge war es wohl nicht nur finanzielles Interesse, das die Asservatenverantwortliche der ZentraB zu dem irren Handel trieb. Anke S. habe mit den Gefälligkeiten nach Ansehen und Wertschätzung innerhalb der Polizei gestrebt, führten die Staatsanwälte aus.
Und ganz pragmatisch wollte sie wohl auch Platz in ihren ständig überfüllten Lagerhallen schaffen.
Die Beschuldigte selbst verfolgt den Prozessauftakt schweigend. Bis zum nächsten Verhandlungstag wolle sie sich mit ihrem Verteidiger beraten, ob und wie sie sich zu den Vorwürfen einlassen möchte, gibt der Vorsitzende Richter Rüdiger Harr nach einem Rechtsgespräch zu Protokoll.
Zuvor hatte die Kammer den Beteiligten ihre Vorstellungen unterbreitet, wie das bis Mitte Juni terminierte Verfahren abgekürzt werden könne. Und dabei auch Zweifel am angeklagten Diebstahlsvorwurf geäußert, da in einer internen Dienstanweisung der Polizei die Fahrräder als "herrenlos" bezeichnet wurden.
Dies hätte bei der Angeklagten einen Irrtum hervorrufen können, so eine Überlegung des Vorsitzenden Richters. Für die Kammer steht demnach mehr der Untreue-Tatbestand im Fokus, da Anke S. das vereinnahmte Geld aus den Verkäufen nicht abgeführt habe.
Harr regte an, das Verfahren auf die Fälle zu beschränken, in denen nachweislich Geld geflossen ist. Das Gericht kann sich demnach bei einem glaubwürdigen Geständnis eine Bewährungsstrafe vorstellen.
Titelfoto: Ralf Seegers