Gepriesen als Coup gegen die Drogenkriminalität: Werden die EncroChat-Prozesse zum Justiz-Desaster?
Dresden - In Sachsen haben die ersten sogenannten EncroChat-Verfahren begonnen. In Leipzig und Dresden verhandeln die Landgerichte gegen mutmaßliche Drogenhändler.
Sie alle flogen auf, als Fahnder den verschlüsselten Chat knackten. Doch nach wie vor ist unklar, ob sächsische Behörden die Daten der französischen Ermittler verwenden durften. Obendrein sorgen Aussagen von LKA-Mitarbeitern bei Gericht für Verwirrung statt Klarheit.
So ist es für die zuständigen Richter schwierig, die richtigen Ermittler zu befragen. Manch "Hauptsachbearbeiter" aus den Protokollen stellt sich im Zeugenstand als einfacher Bearbeiter heraus. Einen Gesamtüberblick über die konkreten Ermittlungen im LKA hat wohl derzeit noch keiner der Richter.
Dafür sprach ein Fahnder plötzlich von der Ermittlungsgruppe "Thor Sachsen" im LKA. Diese sei ausschließlich mit den EncroChats betraut gewesen.
Offenbar waren bisher gehörte Fahnder dieser Gruppe unterstellt. Nur wird diese Truppe in keiner Akte erwähnt.
Und auf Nachfrage der Richter kann sich kein LKAler an Mitarbeiternamen der Sondereinheit erinnern.
Prozess gegen Mustafa "Musti" K. von der KMN-Gang
Apropos Akten: Allein im Prozess gegen Mustafa "Musti" K. (22) von der KMN-Gang fehlt bis heute die Urfassung seiner mutmaßlich abgefassten Chat-Daten.
Die Strafverfolger "sortierten" fürs Gericht Relevantes vor. Ein Vorgehen, das seit Jahren immer wieder für Ärger zwischen LKA und Justiz bei vergleichbar "einfachen" Telefonüberwachungs-Tabellen führt. Woher will das LKA entscheiden, was für Richter relevant ist?
Das gilt erst recht für die abgefangenen EncroChats. An den Listen scheiden sich derzeit flächendeckend die "juristischen" Geister. Die Fragen, unter welchen Umständen sie nach Deutschland kamen und ob sie hier überhaupt verwertet werden durften, sind nach wie vor offen.
Bisher hieß es offiziell, Frankreich fing ab Juni 2020 die Chats ab. Der "Beifang" wurde an Deutschland und andere Länder geliefert. Erst danach startete Deutschland die Ermittlungen.
Allerdings sagte in Dresden ein IT-Forensiker aus, dass im BKA schon im März 2020 eine Abteilung zur Auswertung erwarteter großer Datenmengen aufgebaut wurde. Also drei Monate bevor der Staatsanwalt in Frankreich überhaupt - und anfangs nur für Frankreich - das Abfangen genehmigte.
"Ermittlungen gegen X"
Obendrein sind in Deutschland besondere Ermittlungen nur gegen namentlich bekannte Verdächtige erlaubt. In den vorliegenden Genehmigungen des Staatsanwaltes aus Lille, auf die sich BKA und LKA bis heute stützen, ist allen Ernstes von "Ermittlungen gegen X" die Rede!
In Berlin setzte ein Gericht wegen derlei Unklarheiten Verfahren aus. In Schweden gab es nach TAG24-Informationen Freisprüche, weil die "Erlangung der Daten nicht nachvollziehbar" war. In Sachsen wird verhandelt. Noch.
Das ist EncroChat
EncroChat war ein Dienstleister, der besonders verschlüsselten Chat-Verkehr auf eigens dafür verkauften Handys (1600 Euro pro Stück) anbot. Allein die Passwörter waren 15-stellig. Europol leitete Anfang 2020 Ermittlungen ein, weil Fahnder feststellten, dass der größte Teil der Handynutzer kriminelle Geschäfte macht.
Der Staatsanwalt in Lille (Frankreich) genehmigte den dortigen Fahndern im Juni 2020 die "Installation einer Abfangeinrichtung" gegen EncroChat, nachdem dort immer wieder Drogendealer mit Enrco-Handys erwischt wurden.
Der Chat wurde gehackt, die Fahnder lasen fortan "live" mit. EncroChat warnte sogar noch seine Kunden, die Technik zu entsorgen - doch zu spät. Es wurden Tausende Daten gesichert.
Weil diese Handys europaweit im Einsatz waren, wurden natürlich auch Daten von mutmaßlichen Tätern in Belgien, Deutschland oder Schweden erfasst - und von den Franzosen an diese Länder weitergegeben. Es kam europaweit zu Razzien, auch in Sachsen.
Über die Verwertung der abgefangenen Daten außerhalb Frankreichs ist jetzt ein massiver juristischer Streit entbrannt.
Titelfoto: Montage: xcitePress, Steffen Füssel