"Wir sind dann wohl die Angehörigen": Reemtsma-Entführung aus einer ganz anderen Perspektive

Hamburg – Die Reemtsma-Entführung ist in Deutschland fast jedem ein Begriff. Im März 1996 wird der Millionenerbe Jan Philipp Reemtsma (69) entführt und muss 33 Tage in Gefangenschaft ausharren, bis die Entführer ihn nach mehreren missglückten Geldübergaben endlich freilassen. Er selbst schilderte seine Erlebnisse 1997 in dem Buch "Im Keller", sein Sohn Johann Scheerer (39) tut dies mehr als 20 Jahre später ebenfalls. Nun wird der Stoff verfilmt.

Claude Heinrich (l) als Johann und Adina Vetter als Ann Kathrin Scheerer in einer Szene des Films "Wir sind dann wohl die Angehörigen".
Claude Heinrich (l) als Johann und Adina Vetter als Ann Kathrin Scheerer in einer Szene des Films "Wir sind dann wohl die Angehörigen".  © --/Pandora Film; 23/5/dpa

In "Wir sind dann wohl die Angehörigen" erzählt er den Kriminalfall aus der Sicht des 13-jährigen Jungen, der er damals war. Regisseur Hans-Christian Schmid (57) nutzte Scheerers Buchvorlage, um diese Perspektive gespickt mit einem spannenden Konflikt in seinem neuen Kinofilm zum Leben zu erwecken.

Wenn etwas Schlimmes passiert, hadern viele Menschen mit der letzten Begegnung mit einem bestimmten Menschen. Oft fällt dann der Satz: "Wenn ich gewusst hätte, dass es das letzte Mal ist, hätte ich der Person nochmal gesagt, wie sehr ich sie liebe." Genauso geht es auch Johann Scheerer (gespielt von Claude Heinrich).

Er und sein Vater (Philipp Hauß) sind nur wenige Stunden vor der Entführung im Streit über ein Reclam-Heft auseinandergegangen. Reemtsma will, dass sein Sohn "Aeneis" von Vergil über Ostern liest, nichts ahnend, dass er das Fest ohne seine Familie in einem Keller verbringen wird. Und auch nicht ahnend, dass sein Sohn Tage später verzweifelt versucht, das "blöde Buch" in der Mülltonne zu finden.

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Kurz nach dem Verschwinden von Reemtsma bildet sich im Haus der Familie eine ungewöhnliche und aufgezwungene Wohngemeinschaft. Die Angehörigenbetreuer Vera (Yorck Dippe) und Nickel (Enno Trebs), der gute Freund der Familie Christian Schneider (Hans Löw) und der Anwalt Johann Schwenn (Justus von Dohnányi) ziehen ein.

Alle mit der Absicht zu helfen. Doch wirken sie selbst wie Gefangene, die versuchen, zwischen den nervenaufreibenden Telefonaten mit den Entführern sich mit dem Alltag abzulenken. Sie spielen Tischtennis, gehen auf den Jahrmarkt oder gucken "Die Harald Schmidt Show".

Technische Probleme und menschliches Versagen

Yorck Dippe (v.l.n.r.) als Vera, Adina Vetter als Ann Kathrin Scheerer und Justus von Dohnányi als Johann Schwenn in einer Szene des Films.
Yorck Dippe (v.l.n.r.) als Vera, Adina Vetter als Ann Kathrin Scheerer und Justus von Dohnányi als Johann Schwenn in einer Szene des Films.  © --/Pandora Film; 23/5/dpa

Alles wirkt sehr ruhig, aber es ist eine angespannte Ruhe, die in der nächsten Minute schon wieder vorbei sein könnte. Laut wird es nur, wenn das Telefon klingelt. Plötzlich werden Treppen heruntergerannt, an Türen gehämmert und hektisch das Aufnahmegerät angeschaltet.

Die Verzweiflung von Sohn und Mutter (Adina Vetter) über ihren Verlust und die Angst, dass der Vater vielleicht nie wieder kommt, wird in vielen Szenen spürbar. Besonders aufgeladen durch die soziale Distanz, die in der Familie zu herrschen scheint, oft heißt es nicht Mama oder Papa, sondern "Ann-Kathrin" und "Jan Philipp".

Fast so, als hätte die Intellektualität des Vaters Emotionen vertrieben. Und jetzt, wo sie unerwartet durchbrechen, weiß niemand so recht, wie er damit umgehen soll. Zum Beispiel als Ann-Kathrin in Tränen ausbricht und Johann erstmal im Türrahmen verharrt, bevor er sie in die Arme nimmt.

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Auch sind sich die Erwachsenen nicht einig darüber, wie viel Johann jetzt wissen und sehen soll. Oft als stiller Beobachter kriegt er mit, wie seine Mutter leidet, dass sein Vater irgendwo in einem Stuhl gefesselt sitzt und dass einfach alles schiefgeht.

Der Kontakt zu den Entführern wird von technischen Problemen und menschlichem Versagen geprägt.

Im Mittelpunkt steht die Vertrauensfrage

Der Film "Wir sind dann wohl die Angehörigen" feierte am 29. September auf dem Filmfest Hamburg Premiere.
Der Film "Wir sind dann wohl die Angehörigen" feierte am 29. September auf dem Filmfest Hamburg Premiere.  © Axel Heimken/dpa

Besonders spannend ist hier die Darstellung des Konflikts zwischen der Polizei und den Angehörigen. Die einen wollen die Allgemeinheit schützen und die Täter fassen, die anderen einfach nur ihren Vater wieder in die Arme schließen. Und mittendrin Vera und Nickel, die nicht nur vermitteln sollen, sondern auch der Familie beistehen.

Doch wie soll das gelingen, wenn die Einsatzleitung Anweisungen erteilt, die im Widerspruch zu den Interessen von Johann und seiner Mutter stehen? Es geht auch um die Vertrauensfrage: Vertraue ich den zwei Menschen, die seit Tagen in meinem Haus wohnen und sich um mich kümmern, aber gleichzeitig von der Polizei sind, die in meinen Augen alles falsch macht?

Oder vertraue ich meinem Anwalt, der mehrfach aufgrund seines cholerischen Verhaltens und Schlafmangels die Ermittlungen verhinderte? Schlussendlich vertraut Ann-Kathrin keinem mehr und steht mit Johann ganz alleine in dem großen Haus.

Dennoch ist es ihr zu verdanken, dass am Ende tatsächlich alles gut geht. Auch wenn die Polizei Hamburg etwas anderes behauptet.

"Wir sind dann wohl die Angehörigen" startet am 3. November in den deutschen Kinos.

Titelfoto: --/Pandora Film; 23/5/dpa

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