Reeperbahn ruft zum "Liebsein" auf: Kiez-Kümmerin Julia Staron über Nightlife und Nachbarschaft

Hamburg – "Lieb sein" klingt so einfach, scheint aber in der heutigen Zeit oft eine Herausforderung zu sein. In den letzten Monaten haben sich auch auf der Hamburger Reeperbahn homophobe, sexistische und rassistische Übergriffe gehäuft. Ein Zustand den das "Business Improvement District (BID) Reeperbahn+" nicht dulden will und die Plakat-Kampagne "Lieb sein" ins Leben gerufen hat. Auf Nachfrage von Quartiersmanagerin Julia Staron (52) ließ sich sogar Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (57, SPD) zusammen mit Drag-Queen Valery Pearl in der St.-Pauli-Kneipe "David-Quelle" ablichten. Im TAG24-Interview verrät Staron, warum Sichtbarkeit so wichtig ist.

Quartiersmanagerin Julia Staron (52) unterwegs auf St. Pauli. Seit über 20 Jahren ihr Zuhause.
Quartiersmanagerin Julia Staron (52) unterwegs auf St. Pauli. Seit über 20 Jahren ihr Zuhause.  © Tag24/Madita Eggers

TAG24: Frau Staron, Sie sind unter anderem ehemalige Club-Besitzerin, Stadtteilkümmerin, Quartiersmanagerin und ehrenamtliche Kommunalpolitikerin. Was hat Sie dazu bewogen, St. Pauli quasi zu ihrer Lebensaufgabe zu machen?

Staron: "Ich finde diesen Ort so besonders, dass ich ihn für schützen- und kümmernswert halte. Es ist nicht mein Quartier, aber das Quartier, mit dem ich mich identifiziere. Welches ich bewundere und wertschätze für die Freiräume, die es hier gibt. Je gespaltener unsere Gesellschaft wird, umso wertvoller ist es, was wir hier haben und umso mehr will ich dafür kämpfen.

Klar hat es eine politische Komponente: Aus der Arbeit als Quartiersmanagerin habe ich mich dazu entschieden, mich politisch zu engagieren. Ich dachte, man muss noch mehr bewegen als das, was ich als Quartiersmanagerin machen kann. Ich muss natürlich aufpassen, dass ich die Dinge trenne, aber dennoch befruchtet sich das gegenseitig."

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TAG24: Sie sind seit ihrem 15. Lebensjahr auf St. Pauli unterwegs. Können Sie sich noch daran erinnern, warum Sie sich damals in das Viertel verliebt haben?

Staron: "Ich glaube, es ist ganz normal, dass jede Jugendliche und jeder Jugendliche in Hamburg irgendwann, wenn sie noch nicht wirklich dürfen, nach St. Pauli geht und ein bisschen hohldreht. Und das habe ich eben auch gemacht. Das war Mitte der 1980er-Jahre, da sah das hier noch ganz anders aus und war auch ein bisschen spookiger. Oder ich bin heute einfach gelassener."

TAG24: Wie hat sich Ihre Einstellung dem Viertel gegenüber über die Jahre verändert?

Staron: "Als Kind, wenn meine Mutter mit mir über die Reeperbahn fuhr, hat sie immer noch die Knöpfe im Auto runtergemacht. Das war eher so das Bild, was man damals hatte. Das änderte sich für mich erst Ende der 90er, als ich angefangen habe im 'Florida The Art Hotel' zu arbeiten und plötzlich gemerkt habe, das ist ja ganz anders: Klar gibt es den Nightlife-Aspekt, aber gerade, wenn du tagsüber der Nachbarschaft begegnest, kriegt das Viertel ein ganz anderes Gesicht und Bedeutung. Und dann wurde es irgendwann zu meinem Zuhause."

TAG24: Für dieses Bild von St. Pauli setzen Sie sich ja auch vehement ein.

Staron: "Man unterscheidet ja auch St. Pauli und Kiez. Kiez beschreibt eher das Nightlife, das Amüsierviertel um die Reeperbahn herum und St. Pauli ist viel größer, vielschichtiger und politischer. Ein Dorf, in dem die ganze Welt zusammenkommt.

Mein Aufgabenbereich liegt irgendwo dazwischen: Als Quartiersmanagerin habe ich das Amüsierviertel im Auftragsgebiet und als Kommunalpolitikerin ist es dann doch das ganze Viertel."

"St. Pauli ist ein Schmelztiegel aller gesellschaftlicher Themen!"

Die "Lieb sein!"-Kampagne des BID Reeperbahn+ geht in die nächste Runde und wird mit Unterstützung von Hamburgs Bürgermeister, Peter Tschentscher (57, SPD), und Drag-Queen Valery Pearl fortgesetzt. Ein Zeichen gegen Homophobie, Sexismus und Rassismus und für mehr Toleranz.
Die "Lieb sein!"-Kampagne des BID Reeperbahn+ geht in die nächste Runde und wird mit Unterstützung von Hamburgs Bürgermeister, Peter Tschentscher (57, SPD), und Drag-Queen Valery Pearl fortgesetzt. Ein Zeichen gegen Homophobie, Sexismus und Rassismus und für mehr Toleranz.  © Andreas Muhme

TAG24: Gerade in den letzten Monaten stieg die Zahl der Gewalttaten, auch gegenüber Transsexuellen. Hat St. Pauli trotz seiner Vielfalt ein Toleranz-Problem?

Staron: "Ich muss da ein bisschen ausholen: St. Pauli ist ein Schmelztiegel aller gesellschaftlicher Themen. Alle Themen, die es in der Gesellschaft gibt, fokussieren sich hier. Das ist manchmal wie ein Brennglas. Wenn wir ein soziales Gefälle haben, siehst du es hier als Erstes. Das heißt, ich glaube, dass diese homophoben, sexistischen und rassistische Übergriffe Phänomene sind, die wir in unserer Gesellschaft vermehrt sehen.

In anderen Städten sind die Zahlen viel höher, aber bei uns gibt es sie eben auch und für uns war ganz klar, wenn wir uns als Viertel nicht mit unserer Grundidentität dagegenstellen, überlassen wir das Thema anderen und das kann nicht sein. Deswegen ist 'Lieb sein' entstanden, was auch erstmal nur ein Statement ist."

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TAG24: Warum war es Ihnen ein Anliegen, Hamburgs Bürgermeister mit ins Boot zu holen?

Staron: "Hamburg hatte Bürgermeister und Innensenatoren, die gesagt haben, nach St. Pauli geht man nicht. Das hat sich zum Glück gewandelt und das wollen wir mit der Kampagne auch sichtbar machen. Aber es ist, auch wenn wir es hier auf St. Pauli als Erstes auf die Straße bringen, ein gesamtgesellschaftliches und damit auch ein politisches Thema. Wir haben uns gedacht, es wäre schön, wenn sich der Erste Bürgermeister mit dahinter stellt und auch für die Vielfalt unserer Gesellschaft mit einsteht. Ich war zuversichtlich, dass er das tut und er tat es auch, ohne mit der Wimper zu zucken."

TAG24: Hat sich auch die Stimmung innerhalb des Quartiers geändert?

Staron: "Ich glaube, dass es auf St. Pauli im Vergleich zu anderen Vierteln immer noch besser ist, aber während Corona haben wir ein bisschen verlernt, aufeinander zu achten. Es hat schon dazu geführt, dass viele in ihren Tanzbereichen geblieben sind, auch um ihre eigene Existenz zu sichern. Das müssen wir wieder ein bisschen üben. Der Zusammenhalt war immer die Kraft von St. Pauli.

Und wir müssen unsere Haltung - die wahrlich nicht verschwunden ist – auch unseren Gästen zeigen."

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"Bei den aktuell gestiegenen Mieten erlaubst du dir als Betrieb keine Experimente!"

Julia Staron vor zwei Figuren des "Artwalk" auf der Reeperbahn. Eine weitere Aktion des BID Reeperbahn+, welches St. Paulis prägenden Persönlichkeiten in der Fokus rückt und ab Juli wieder auf dem Hans-Albers-Platz ausgestellt wird.
Julia Staron vor zwei Figuren des "Artwalk" auf der Reeperbahn. Eine weitere Aktion des BID Reeperbahn+, welches St. Paulis prägenden Persönlichkeiten in der Fokus rückt und ab Juli wieder auf dem Hans-Albers-Platz ausgestellt wird.  © Madita Eggers/TAG24

TAG24: Heutzutage wird ja auch oft von der Ballermannisierung St. Paulis gesprochen. Wie sehen Sie das?

Staron: "Ich finde Ballermannisierung ist zu einseitig. Wir haben immer noch den Spielbudenplatz, der mit seinen Theatern schon eine andere Welt ist. Wir haben vielleicht viele Bereiche, in denen Schlager sehr omnipräsent ist, aber St. Pauli ist nun mal ein Amüsierviertel und dieses unterliegt Trends. Offensichtlich holt das gerade die Masse ab.

Es kann auch sein, dass der aktuelle Krisenmodus dazu führt, dass viele unter Feiern gehen verstehen, sich komplett abzuschießen. Ich würde es deswegen nicht als kulturelle Entwicklung, sondern als eine Welle bezeichnen."

TAG24: Denken Sie, dass diese auch bald wieder abklingen wird?

Staron: "Das Einzige, wo es gerade schwierig wird, Gegenentwürfe zu entwickeln, ist, dass die Mieten zu hoch sind, um hier noch eine bestimmte Vielfalt abbilden zu können. Bei den aktuell gestiegenen Mieten, Energiekosten und Personalkosten erlaubst du dir keine Experimente. Du setzt auf die Karte, die funktioniert und das ist natürlich ein Teufelskreis: Du beziehst nur noch ein bestimmtes Publikum, was wiederum dafür sorgt, dass ein anderes nicht mehr kommt und der Raum für Experimente wird immer kleiner."

TAG24: Gibt es Möglichkeiten gegen die hohen Mieten anzusteuern?

Staron: "Die Probleme sind gerade sehr wirtschaftlich gesteuert und anders gesteuert kriegen wir sie leider nicht. Wir können die Mieten nicht drosseln und deswegen ist es gerade tatsächlich dem Markt überlassen. Wir versuchen natürlich durch Kulturförderung Dinge zu unterstützen und die Woche zu stärken, um den Umsatzdruck aus den Wochenenden herauszunehmen, allerdings sind unsere Möglichkeiten begrenzt. Aber irgendwann wird das wieder kippen, auch die Vermieter werden merken, dass der achte Kiosk in einer Straße kein Umsatz-Garant mehr ist."

Die neuen "Lieb sein"–Plakate werden ab Montag an 250 Standorten auf den Kultursäulen in Hamburg, auf Stromkästen, an Bahnhöfen und in Unterführungen bis zum 4. Mai zu sehen sein.

Titelfoto: Bildmontage: TAG24/Andreas Muhme

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