"L'apotheque": Deswegen ist das Museum für Sexspielzeug so besonders
Hamburg - Anna Genger (45) wuchs in der Apotheke ihrer Mutter auf, studierte zuerst an einer renommierten Londoner Modeschule, widmete sich dann der Malerei. Die Bilder der Hamburgerin wechselten für Zehntausende den Besitzer, dann verlor sie ihre Galerie und ihre Kunstkarriere. Nach St. Pauli wollte sie eigentlich nie zurückkehren. Heute betreibt sie dort "L'apotheque", das erste Museum für historisches Sexspielzeug in Deutschland. TAG24 hat sich dort umgeschaut.
"Ich habe sehr jung St. Pauli verlassen, um dem Krankheitsbild meiner Mutter zu entfliehen und bin mit der Absicht nach London gegangen, um an der weltbesten Schule für Modedesign, dem Central Saint Martins College, Modedesign zu studieren".
John Galliano, Alexander McQueen (†40) oder Stella McCartney (51) gehören zu den Absolventen, aber auch Schauspieler Pierce Brosnan (69) oder Rock-Sängerin PJ Harvey (53).
Anna Genger sitzt in einer Sitzecke des Ortes, an dem sie ihre Kindheit verbracht hat. Um sie herum dunkles, schweres Holz an den Wänden, eine einnehmende Theke teilt den Raum. Die bauchigen braunen Apothekerflaschen in den Regalen sind heute nur noch Zierde. Dazwischen Sexspielzeug; historische Gerätschaften, die zweckentfremdet wurden, ein geflochtener historischer Dildo aus Japan, der Womanizer.
Das Gebäude ist von 1861 und steht unter Denkmalschutz. Bis vor wenigen Jahren betrieb Gengers Mutter hier eine Apotheke, die älteste St. Paulis, sie existierte bereits seit 1799, zuerst an einem anderen Ort. Genger kennt hier jeden. Ein Segen jedoch war das nicht immer.
"L'apotheque": "Ich hatte eine gewisse Arroganz"
Dem Grundstudium in London Ende Anfang der 2000er in Modedesign folgte der BA für Malerei an der Slade School, der Master am Royal College. Bereits mit Anfang 20 wird die St. Paulianerin von einer Galerie unter Vertrag genommen, stellt in Oslo, London, Berlin aus. Ihre Werke finden Eingang in die Chemnitzer Kunstsammlung, einer der größten und wichtigsten kommunalen Kunstsammlungen Deutschlands überhaupt. Mit dem Galerievertrag stellt sich "substantieller kommerziellen Erfolg" ein.
Neben Genger räkelt sich ihr Hund, auf der Fensterbank sitzend beobachtet ihre Katze das Treiben auf dem Kiez. Alles schleicht, was sich bewegt.
"Das hat mich zu der Annahme verleitet, dass es jetzt immer nur bergauf geht." Nach sieben Jahren schloss die Galerie. "Das war dann der - mittlerweile sage ich Knieschuss, früher habe ich Genickschuss gesagt - für meine Künstlerinnenkarriere."
Sie habe danach nie mehr auch nur ansatzweise an den Erfolg dieser Zeit anknüpfen können, erzählt sie im Gespräch mit TAG24.
Anna Genger: Gemälde, Collagen, Skulpturen
"Ich habe sieben, acht Jahre viel Geld umgesetzt. Habe gedacht, ich sei ein kleiner Superstar, hatte eine gewisse Arroganz, eine gewisse Selbstverständlichkeit, was meinen Marktwert angeht. Und auf einmal ist alles weggebrochen, ich hatte kein Publikum mehr. Das macht ja was mit einem. Mich hat das zu einem Opfer gemacht. Mittlerweile verstehe ich 'L'apotheque' so, dass ich wie der Phoenix aus der Asche nicht mehr diese Opferrolle einnehme. Ich habe viel geschimpft, viel Blut, Schweiß und Tränen sind in dieses Projekt geflossen, bis ich mich aus dieser Rolle herausarbeiten konnte."
Vor wenigen Minuten schloss sie die Tür hinter der Besuchergruppe des heutigen Tages. Zwei Paare, zwei junge Frauen, eine ältere Dame und mich hat sie herumgeführt in den 35 Quadratmeter kleinen ehemaligen Apothekenräumlichkeiten. Nach knapp eineinhalb Stunden ist Schluss.
"L'apotheque": Keine Gespräche über Vorlieben bei Selbstbefriedigung
"Wir werden hier nicht über Eure oder meine Selbstbefriedigungsvorlieben reden", stellt Anna Genger direkt am Anfang klar. Die Leute lachen. Niemand entgegnet etwas, die Erfahrung, dass die Besucher und Besucherinnen ihrer Führungen andere Erwartungen haben als an das was sie bekommen, macht sie regelmäßig.
"Ich glaube, dass dieser Überraschungsfaktor, dass man hier nicht bekommt, was man erwartet hat, positiv bewertet wird."
Auch die Gäste des heutigen Nachmittags scheinen nicht enttäuscht zu sein. Im Gegenteil.
"L'apotheque": Ein Tinder-Date hatte die Geschäftsidee
Schon das Betreten der Räume bedeutet, ein Geschichtsbuch zu öffnen. Genauer gesagt sogar mehrere. Da ist das der Apotheke, die ihre Mutter fast 50 Jahre lang geführt hat. Bis 2018, dann beendete ein Anruf dieses Kapitel. Die darauffolgende Diagnose gibt der Dominanz, die Gengers Mutter im Leben ihrer Tochter einnahm, Namen und Erklärung. Genger, Anfang 40, kehrt nach St. Pauli zurück, pflegt ihre Mutter und überlegt, was sie mit der Apotheke machen könnte. Das Geschäft weiterzuführen, ist keine Option.
Ein Tinder-Date, heute guter Freund und Geschäftspartner, hatte die Idee für das Museum, den Namen "L'apotheque" gab es schon davor, Konzept und Branding kamen hinzu. Deutschlands erstes Museum für historisches Sexspielzeug und Raum für zeitgenössische Kunst.Die Ausstellungsstücke kommen nicht von Genger, gestiftet hat die Sammlung Nadine Beck, Wissenschaftlerin und Autorin, die zur Geschichte des Vibrators promoviert hat.
Die Geschichte der Exponate ist eine politische Geschichte
Die Geschichte, die die Exponate in der "L'apotheque" erzählen, ist vor allem eine Politische. "Für mich sind die Spielzeuge wie Requisiten, um über interessantere Dinge zu sprechen.
Alles was schüttelt, rüttelt und vibriert führt hoffentlich zum Orgasmus und da hört für mich dann schon der interessante Kontext auf", sagt Genger gegenüber TAG24.
Genger nutzt die Vibratoren und Dildos, um etwa über das Abtreibungsverbot, die Ausübung und Stigmatisierung der weiblichen Lust, Pioniere wie Beate Uhse (†101) und die us-amerikanische Sexualtherapeutin Betty Dodson (†91), oder über die Veränderungen des Rotlichtgewerbes auf St. Pauli mit Aufkommen von Aids in den 1980er-Jahren zu sprechen.
"Das, was ich hier erzähle, ist das, was ich für gesellschaftlich relevant halte. Wenn ich merke, dass Leute ein bisschen schläfrig werden, weil ich zu edukativ bin, dann kann ich aber auch ein paar private Anekdoten einbauen - mein Gott, ich war zwei Jahre mit einem Veranstalter von Swinger-Partys zusammen."
"L'apotheque": Familienalbum der Identität
"Endlich kann ich ausleben, wer ich bin. Ob es jetzt um Kunst, Bildung, Humor, Sexualität, Kiez geht - im Prinzip ist das hier sowas wie das Familienalbum meiner Identität."
Mehr: lapotheque.de, keine Öffnungszeiten, nur buchbare Führungen.
Titelfoto: Daniel Bockwoldt/dpa, TAG24 Montage