Kiez-Legende Michel Ruge: "Auf St. Pauli wurde bis Anschlag gelebt"
Hamburg - Der Hamburger Michel Ruge (53) ist auf dem Kiez aufgewachsen, war als Jugendlicher Mitglied in der berüchtigten Bomberjackengang "Breakers", später Türsteher, Personenschützer, Schauspieler und Kampfkünstler. Er hat Bestseller geschrieben, in Los Angeles, München oder Berlin gewohnt. Nach Hamburg zieht es ihn immer wieder zurück. "Einmal Kiez, immer Kiez." Ein Gespräch.
TAG24: Herr Ruge, Sie sind in den 1970er-Jahren auf St. Pauli aufgewachsen. Ihr Vater hat zu der Zeit mehrere Bordelle betrieben. Wie hat man sich eine Kindheit zu dieser Zeit auf dem Kiez vorzustellen?
Michel Ruge: In den Siebzigern war St. Pauli noch ein reines Arbeiterviertel. Auch den Hafen fand man noch im Stadtteil. Viele Flächen waren noch nicht bebaut, es gab überall noch Freiräume für uns Kinder. Wir haben viel auf Baustellen gespielt, sind in Autos rein, haben die kurzgeschlossen. Da war ich noch nicht mal zwölf, da war ich zehn, elf. Wir haben Sachen geklaut, uns ausprobiert, es war einfach viel mehr möglich.
Und gleichzeitig war es so, dass das Viertel wachsam war. Man kannte sich. Ich habe mich sehr geborgen gefühlt.
TAG24: Heute ist vieles cleaner, vieles hier geregelter, das Urtümliche oft künstlich am Leben gehalten. Und dennoch gibt es auf dem Kiez noch vieles zu sehen, was für sicherlich einige Leute nicht unbedingt eine kindgerechte Umgebung darstellt. War es nicht früher noch gefährlicher?
Ruge: Statistisch gesehen war es gefährlicher und als Jugendlicher ist es stressiger gewesen. Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger ging es hier los mit den Jugendgangs. Die Subkulturen kamen, jeder wollte sich abgrenzen. Das war natürlich auf St. Pauli besonders extrem, weil hier vieles aufeinanderprallte. Das war ja ein Gaunermilieu damals, nicht nur Rotlicht, hier hat sich alles vermischt. Hier waren Bankräuber, Erpresser, Betrüger, Einbrecher, eben alles, was nicht solide war, war hier auf dem Kiez.
Da hat es natürlich geknallt und wir Kinder haben das nachgemacht. Das waren unsere Vorbilder. Als Vergleich hatten wir ja nur die Lehrer an der Schule und die Malocher. So wie ein Malocher wollte ich nicht enden, das fand ich schrecklich. Die haben immer schlechte Laune gehabt, machten immer einen unglücklichen Eindruck. Hatten nie Zeit für ihre Kinder. Und wie die Lehrer zu werden, war auch keine Alternative.
Die haben natürlich verurteilt, wie wir gelebt haben. Ich habe immer gesagt: "Aber das ist das reale Leben."
Michel Ruge: "Die Tragödien auf St. Pauli waren andere"
TAG24: Wie sah das reale Leben hier aus?
Ruge: Die Leute haben am Anschlag gelebt. Meine Tante hatte eine Eckkneipe, "Betten Voss", mit Durchgang zu einem Hotel. Da wurde immer gefeiert. Sie hatte über Jahrzehnte nicht mal einen Schlüssel, es war ja immer geöffnet. Da war jetzt um diese Uhrzeit am Nachmittag schon Halligalli. Ich trinke heute nicht mal zehn Prozent von dem, was meine Eltern und deren Freunde und Bekannte damals getrunken haben. Hier, in so einem Hafenviertel, da wurde sich getroffen, da wurde sich gehauen, mein Stiefvater hat, glaube ich, dreimal die ganze Kneipe und auch ein paar Mal bei uns die Küche zerlegt. Das war normal.
Hier waren die Tragödien andere als zum Beispiel in Blankenese. Da war es mehr die seelische Gewalt. Man hat die Kinder dann mit Liebesentzug bestraft, ich kenne Leute, die mussten ihre Eltern früher siezen. Da hat man so einen Abstand geschaffen.
Ich habe mir lieber eine gefangen, als dass ich Eltern gehabt hätte, die so eine Kälte versprühen.
TAG24: Sie haben gerade schon die Zeit der Straßengangs angesprochen, von der auch Ihr autobiografischer Debütroman "Bordsteinkönig" handelt. Sie selbst waren bei den "Breakers". Hamburg war eine Hochburg, es gab noch andere Gangs, etwa die "Streetboys" oder die "Champs". Obwohl jede zeitgeschichtliche Epoche, jede Strömung, jede noch so kleine Gruppe heutzutage untersucht scheint, wurde die Zeit der Jugendgangs, auch Bombergangs genannt, bis heute nicht so richtig untersucht. Dabei gab es die zu Beginn der 80er-Jahre in vielen westdeutschen Städten, nicht nur in Hamburg.
Ruge: Die Jugendgangs waren ein Phänomen. In den Siebziger/Achtziger Jahren gab es den Punk. Es gab die Popper. Die Popper kamen aus dem Bildungsbürgertum. Die Punks kamen im Grunde auch aus dem Bildungsbürgertum oder waren die totalen Assis. Punk war ein politisches Thema, Punk war gegen die Bürgerlichkeit. Das fand die Presse geil. Punk wurde immer porträtiert, es gab Filme, Punk hatte Einfluss auf die Mode.
Wir hingegen haben uns, wenn man so will, wegen dieser Bürgerlichkeit zusammengeschlossen. In diesen Gangs waren viele Kinder von Verlierern aus Billstedt, Mümmelmannsberg, St. Pauli, auch die Neustadt ist damals ein schwieriges Viertel gewesen. Ich habe damals viele Kinder kennengelernt, die intelligent waren, aber benachteiligt, weil sie zum Beispiel Türken sind oder schlecht in der Schule waren.
Weil man eine Ersatzfamilie gesucht hat, hat man sich dann zusammengeschlossen. Aber wir hatten keinen politischen Hintergrund. Wir haben nicht gesagt 'No Future' wie die Punks, wir haben zwar auch Mode kreiert - Mode für Underdogs - Bomberjacken und Fransenjacken zum Beispiel, wir trugen Jogginganzüge in der Öffentlichkeit - aber keine Mode für das Bürgertum. Bei uns herrschte vor allem eine Kultur der Gewalt. Die Jugendgangs waren gefährlicher als die anderen und haben dann ja später auch die Nachhut für St. Pauli gebildet, für die Zuhälter-Gruppen wie die GmbH. Dass dieses Phänomen nicht so richtig untersucht wurde, hat auch mit der Arroganz der Presse damals zu tun.
Es gab ein paar Berichte, aber statt zu gucken, wie das alles entstanden ist, haben sie nur oberflächlich drauf geschaut und uns abgewatscht.
Bomberjacken-Gangs auf St. Pauli: "Es ging auch darum, den Alltag zu bespielen"
TAG24: Worum ging es den Mitgliedern dieser Jugendgangs? Außer im Zusammenschluss eine Art Ersatzfamilie zu finden. Ging es um den Kick?
Ruge: Es ging auch darum, den Alltag zu bespielen. Wenn man in Blankenese aufwächst, dann belegt man auch heute noch eher einen Reitkurs, einen Tenniskurs und so weiter. So was gab es für uns Kinder aus den Vierteln nicht, aus denen die Gangs kamen. In der Schule hatte man die meiste Zeit ohnehin gefehlt. Diese Zeit musste natürlich gefüllt werden. Die Langeweile hat zu Streit geführt, aber dieser Streit war kurzweilig. In der Gang zu sein, hat auch dazu geführt, den Druck abbauen zu können.
TAG24: Mitte der Achtziger war es dann vorbei. Was ist passiert?
Ruge: Es gab schon vorher einige Bestrebungen vonseiten der Politik, die Gangs und die Gewalt einzudämmen. Der damalige Innensenator der SPD Hamburg hatte das Thema "Innere Sicherheit" zur Chefsache erklärt, 1983 kam in Hamburg das Kuttenverbot für die Hells Angels. Nach dem Mord an dem Streetboy Dino Pereira (†23) 1986 war dann nichts mehr wie vorher. Viele haben aufgehört, hatten keine Lust mehr. Dino ist von zwei oder drei seiner eigenen Leute mit Baseballschlägern ermordet worden.
Danach hat sich die gesamte bundesweite Bombergangkultur aufgelöst. Ich weiß nicht, ob es an Dinos Tod lag, aber diese Feststellung haben viele gemacht. Es gab zwar noch ein paar Nachzügler, aber es war nie wieder dasselbe. Die große Zeit der Gangs war spätestens '86 vorbei.
"Gangs United": Projekt bringt 25 Jahre später ehemalige Gangmitglieder wieder zusammen
TAG24: Jahrzehnte später haben Sie "Gangs United" initiiert, ein Projekt mit dem Ziel, die ehemaligen Gangmitglieder zusammenzubringen. Das hat dann auch geklappt.
Ruge: Es hat damals in den Achtzigern einen Marsch von 700 Jugendlichen über die Mönckebergstraße gegeben. Ich habe ein Foto davon gefunden, auf Facebook gepostet und gefragt, wer sich noch daran erinnert. Dann kamen Leute, die sich gemeldet haben, viele haben gesagt, sie könnten das nicht in der Öffentlichkeit sagen. Ich habe dann eine geschlossene Gruppe gegründet, die nach vier Wochen über 1000 Mitglieder hatte, habe Material zusammen gesucht und irgendwann gesagt: "Okay, lasst uns ein Treffen machen."
Ich war fasziniert von dem Gedanken, was wohl 25 Jahre später möglich sein würde. Das waren ja verfeindete Gruppen. Viele hatten heute noch Angst.
TAG24: Wie ist das Treffen dann gelaufen?
Ruge: Wir haben uns dann auf der Reeperbahn in einem Laden getroffen, den auch ein ehemaliger Bomber gemacht hat. Nach der Schweigeminute für alle Toten der Jugendgangs zu Beginn ist das Eis schnell gebrochen. Die Jungs sind sich in die Arme gefallen, manche hatten Tränen in den Augen. Für mich ist es das beste Projekt, was ich je gemacht habe - auch wenn es mich nur Geld gekostet hat. Nicht nur, weil ich auch meine eigene Jugend emotional aufarbeiten konnte, sondern weil es tatsächlich was gebracht hat. Mir hat zum Beispiel ein bekannter Skin von damals geschrieben, dass er durch mich jetzt seinen ersten türkischen Freund habe. Mit dem gehe er jetzt jeden Tag ins Karolinenviertel einen Tee trinken.
Wie geil ist das denn bitte? Und solche Geschichten habe ich öfter gehört. Den Brief des Skins habe ich heute noch.
Michel Ruge: "Ich wollte nicht, dass das Projekt dann irgendwann komplett am Boden liegt"
TAG24: Für das Projekt "Gangs United" sind Sie mit dem "St. Pauli-Urgestein"-Preis durch den Bürgerverein des Stadtteils ausgezeichnet worden. Sie haben viel Presse bekommen, auch das von Ihnen bereits erwähnte Feedback der ehemaligen Gangmitglieder war positiv. Nach drei Treffen haben Sie das Projekt dann aber beendet.
Ruge: Zuletzt sind wir mit 700 Mann über die Reeperbahn, das war fantastisch. Die Stimmung war immer super und das, obwohl da Leute darunter waren, die sich früher die Augen ausgestochen hätten. Dann kam ein Bericht im Blog Indiemedia auf, in dem Sachen behauptet wurden, die einfach nicht der Wahrheit entsprochen haben.
Ich wollte nicht, dass das Projekt dann irgendwann komplett am Boden liegt, und habe es dann aufgelöst.
Titelfoto: Foto: Oliver von Berg / Montage: TAG24