Cansu Özdemir im TAG24-Interview: "Das Thema 'Soziale Spaltung' wird bewusst ignoriert!"

Hamburg - Cansu Özdemir (34) sitzt seit 2011 für Die Linke in der Hamburgischen Bürgerschaft, deren Fraktionsvorsitz sie gemeinsam mit Sabine Boeddinghaus (66) im achten Jahr innehat. Die Tochter kurdischer Gastarbeiter kämpft in und außerhalb ihrer parteipolitischen Arbeit vor allem für Frauenrechte, setzt sich für Frieden und eine verträgliche Sozialpolitik ein. Im TAG24-Interview spricht sie unter anderem über die starke Linke in Hamburg und Fehler des Senats in der Corona-Politik.

Die Co-Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke in der Hamburger Bürgerschaft, Cansu Özdemir (34), stellte sich den Fragen von TAG24.
Die Co-Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke in der Hamburger Bürgerschaft, Cansu Özdemir (34), stellte sich den Fragen von TAG24.  © Oliver Wunder/TAG24

TAG24: Frau Özdemir, seit der ersten Teilnahme an den Bürgerschaftswahlen 2008 hat sich das Ergebnis der Linken stetig verbessert. Wieso ist Hamburg offenbar ein besonders gutes Pflaster für Ihre Partei?

Cansu Özdemir: In Hamburg ist es für eine kleinere Partei wie Die Linke natürlich einfacher, in die Bezirke zu gehen als in einem Flächenland wie beispielsweise NRW. Dafür braucht es Mitstreiter, das macht es in größeren Bundesländern schwieriger für uns.

In Hamburg kommt uns auch zugute, dass wir auf Netzwerke bauen können, die uns erlauben, vor Ort zu sein. Alle Abgeordneten von uns sind in den einzelnen Stadtteilen gut vernetzt, engagiert und können so auch viel besser die Menschen mit unseren Inhalten erreichen. Ähnlich wie in Berlin oder Bremen.

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TAG24: Die Schwierigkeit, die Menschen in der Breite zu erreichen, spiegelt auch das Ergebnis im Bund wider. Das im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 erhoffte zweistellige Ergebnis wurde deutlich verfehlt. Wie viel Cansu Özdemir täte den Fraktionsvorsitzenden im Bundestag gut?

Özdemir: Ich finde es wichtig, dass wir als Die Linke in den einzelnen Bundesländern stark vertreten sind. Wir haben das ja am Beispiel Janine Wissler (41) gesehen – sie tut der Bundespartei gut, wird aber auf Landesebene in Hessen dann doch schmerzlich vermisst. Die Landesebene dürfen wir also jetzt nicht vernachlässigen.

Die Situation im Bund ist aber aktuell schwierig. Dass die Bundestagsfraktion jetzt kleiner ist, erschwert zudem die Arbeit zwischen der Landes- und der Bundesebene.

Das bedeutet ganz konkret, dass Abgeordnete nun mehrere Themen übernehmen oder in mehr Ausschüssen sitzen müssen als vorher und sich nicht nur auf bestimmte Kernthemen konzentrieren können. Darunter leiden dann andere Themen.

Cansu Özdemir (34) im Gespräch mit TAG24 in ihrem Büro.
Cansu Özdemir (34) im Gespräch mit TAG24 in ihrem Büro.  © Oliver Wunder/TAG24

Cansu Özdemir: "Für uns als Linke ist Teilhabe ein demokratisches Recht"

TAG24: Was haben Sie als Die-Linke-Fraktion erreichen können?

Özdemir: In den letzten Jahren haben wir Dank der gestiegenen Anzahl an Abgeordneten unser Schwerpunktthema "Soziale Gerechtigkeit" immer wieder auf die Tagesordnung bringen können, und zwar nicht nur im Sozialausschuss, sondern, indem wir unterschiedliche Aspekte des Themas beleuchten konnten. Ein Resultat davon ist die von uns geforderte "Anti-Armuts-Strategie".

Wir sind immer wieder in die Bezirke gegangen und haben dort Veranstaltungen zu der Situation vor Ort gemacht. Weil es eben einen Unterschied macht, ob man aus Blankenese kommt oder aus Steilshoop.

TAG24: Wie sieht dieser Unterschied aus?

Özdemir: Wir konnten mit vielen Anfragen beweisen, dass in praktisch allen Bereichen die Versorgung drastisch unterschiedlich ist: im Gesundheitswesen, bei den Schulen … Generell gilt: Für uns als Linke ist Teilhabe ein demokratisches Recht. Das heißt, wenn Menschen nicht teilhaben können, weil sie eine Behinderung haben, weil sie arm sind oder eine Migrationsgeschichte haben, dann geht es uns als Stadt an, dann geht es den Senat an.

Cansu Özdemir und der Hamburger Landesverband der Linken fordern eine "Anti-Armuts-Strategie".
Cansu Özdemir und der Hamburger Landesverband der Linken fordern eine "Anti-Armuts-Strategie".  © Bildmontage: Oliver Wunder/TAG24

Cansu Özdemir: "Wenn wir dieses Thema nicht ansprechen, dann tut das niemand"

TAG24: Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Özdemir: Ein ganz konkretes Beispiel ist das Thema Obdachlosigkeit. Nehmen wir das Winternotprogramm. In diesem Winter sind trotz des Programms 22 Menschen auf Hamburgs Straßen gestorben. Wir versuchen immer, deutlich zu machen, dass das nicht normal ist und auch nicht Normalität werden darf. Wenn wir dieses Thema nicht ansprechen, dann tut das halt niemand.

TAG24: Woran machen Sie fest, dass der Druck der Linken wirkt?

Özdemir: An den Veränderungen in der Politik des Senats! Wir als Linke haben jahrelang dafür gekämpft, dass für das Winternotprogramm und öffentlich-rechtliche Unterbringungen bestimmte Mindeststandards gelten. Die gab es vorher nicht. Wir haben auf dem Thema beharrt, haben es auch immer wieder in die Bürgerschaft gebracht. Für die Betroffenen hat sich dadurch viel geändert.

Cansu Özdemir: "Es braucht eine Würdigung der systemrelevanten Berufe"

TAG24: Die soziale Spaltung ist in den vergangenen Jahren durch die Corona-Pandemie noch verstärkt worden. Hat der Senat gute Arbeit geleistet?

Özdemir: Nein, wenn es darum geht, die Folgen der Pandemie abzufedern, dafür zu sorgen, dass die Menschen nicht durch ein Netz fallen, sondern aufgefangen werden, hat der Senat keine gute Arbeit gemacht. Der Ansatz von SPD und Grünen war eher, immer wieder 'Danke' zu sagen und zu klatschen. Das reicht aber nicht aus. Es braucht eine Würdigung der systemrelevanten Berufe durch höhere Löhne.

TAG24: Aber es gab ja zum Beispiel auch finanzielle Hilfen.

Özdemir: Es gab die Hilfen für Solo-Selbstständige oder für Selbstständige. Aber Beträge, die ausgezahlt wurden, wurden oft wieder zurückgefordert. Das ist keine echte Hilfe, wenn Menschen sich Sorgen machen müssen, ob sie die 5000 Euro, die sie erhalten haben, wieder zurückzahlen müssen oder nicht. Gerade in der jetzigen Situation, wo die Inflation so heftig ist, Lebensmittel unglaublich teuer sind und die Mieten weiter steigen, bedeutet das eine große Not. Das ist eine Situation, die so nicht mehr weitergehen kann.

Cansu Özdemir und Die Linke bringen das Thema "Soziale Spaltung" mit allen Facetten immer wieder auf den Tagesplan der Hamburgischen Bürgerschaft.
Cansu Özdemir und Die Linke bringen das Thema "Soziale Spaltung" mit allen Facetten immer wieder auf den Tagesplan der Hamburgischen Bürgerschaft.  © Oliver Wunder/TAG24

Cansu Özdemir: "Wir müssen aufhören, Leuchtturmprojekte wie den Elbtower weiter zu finanzieren"

TAG24: Das heißt, die Geschehnisse der letzten drei, vier Jahre addieren sich immer weiter und werden mitgeschleppt. Das Tal ist also noch nicht durchschritten.

Özdemir: Nein, die Statistik weist für Hamburg eine gestiegene Armutsquote aus. Und sie wird auch in den nächsten Jahren, gerade vor dem aktuellen Hintergrund steigender Preise und Mieten, weiter steigen. Gerade deshalb braucht es die Anti-Armuts-Strategie und Maßnahmen, die Entwicklung abzufedern. Die Problematik bei diesem Senat ist, dass man so tut, als würde das Thema "Soziale Spaltung" nicht existieren. Das Thema wird bewusst ignoriert.

TAG24: Was erwarten Sie vom Senat, damit dieses Netz, das die Bürgerinnen und Bürger auffangen soll, wieder engmaschiger wird?

Özdemir: Wir müssen aufhören, Leuchtturmprojekte wie den Elbtower weiter zu finanzieren. Wenn jahrelang dafür gekämpft werden muss, dass bei bestimmten Bildungseinrichtungen nicht weiter gekürzt wird, auf der anderen Seite präsentieren die Verantwortlichen dann aber ein Leuchtturmprojekt. Und plötzlich ist Geld da.

Das haben wir bei der Elbphilharmonie gesehen, das sieht man jetzt beim Elbtower. Wir reden manchmal von einer Stelle. Eine Stelle eines Sozialarbeiters in Hamburg, von der es heißt: "Die können wir nicht mehr finanzieren."

Lest morgen den zweiten Teil des Interviews mit der Linken-Fraktionsvorsitzenden Cansu Özdemir.

Titelfoto: Oliver Wunder/TAG24

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