St. Pauli bald nur noch ein "Vollbesäufnis auf offener Straße"? Kiez-Kümmerin warnt Senat

Hamburg - Julia Staron (53) setzt sich seit vielen Jahren als Quartiersmanagerin des "Business Improvement District (BID) Reeperbahn+" für ihr Zuhause ein: den Kult-Stadtteil St. Pauli. Gerne wird sie auch als "Die Kiez-Kümmerin" bezeichnet. Beim Spaziergang über die Reeperbahn wird TAG24 Zeuge einer familiären Atmosphäre: Es wird sich gegrüßt und über Neuigkeiten ausgetauscht. Umso trauriger ist es, dass dieser Flair bald vielleicht nur noch eine Erinnerung ist.

Julia Staron (53, r.) kümmert sich als Quartiersmanagerin des BID Reeperbahn + auch um den alljährlich aufgestellten "Artwalk" auf der Reeperbahn. Mindestens zweimal die Woche geht sie alle 15 Figuren der berühmten St.-Pauli-Persönlichkeiten ab, um diese unter anderem von Schmierereien oder Stickern zu befreien.
Julia Staron (53, r.) kümmert sich als Quartiersmanagerin des BID Reeperbahn + auch um den alljährlich aufgestellten "Artwalk" auf der Reeperbahn. Mindestens zweimal die Woche geht sie alle 15 Figuren der berühmten St.-Pauli-Persönlichkeiten ab, um diese unter anderem von Schmierereien oder Stickern zu befreien.  © Tag24/Madita Eggers

Seit neun Jahren kämpft das BID gegen das Missverhältnis zwischen den Kulturstätten, die St. Pauli ausmachen, und Kiosken.

"Wir sind jetzt an einem Kipppunkt, wo man sagt: Wie viele Clubs haben wir noch und wie viele Kioske haben wir schon? Aus touristischer Sicht ist das eine Abwärtsspirale: Die Besucher kommen ja nicht wegen der Kioske, sondern wegen des Flairs und der Atmosphäre", so Staron im TAG24-Gespräch.

"Und wir sind nicht mehr weit davon entfernt, dass die Atmosphäre irgendwann nur noch ein Vollbesäufnis im öffentlichen Raum ist. Absolut austauschbar, dafür muss ich nicht nach St. Pauli fahren", schiebt die 53-Jährige nach.

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Durch die stetig wachsende Anzahl an Kiosken nehme das Cornern und der Alkoholkonsum auf der Straße immer mehr zu.

Dieser Umstand übe einen riesigen Druck auf die Kulturstätten aus, die sich eben nicht hauptsächlich durch Eintrittsgelder, sondern durch die Gastronomieumsätze finanzieren würden. "Wenn die Leute im Kiosk in Massen Alkohol kaufen und dann erst in Clubs tanzen gehen, dann hält der Club das kein Jahr aus."

Quartiersmanagerin Julia Staron (53) unterwegs auf St. Pauli. Seit über 20 Jahren ihr Zuhause.
Quartiersmanagerin Julia Staron (53) unterwegs auf St. Pauli. Seit über 20 Jahren ihr Zuhause.  © Tag24/Madita Eggers

Keine klare Unterscheidung zwischen Gastronomie und Einzelhandel

Bei jedem neuen leerstehenden Gebäude hoffe das BID, dass nicht schon wieder ein Kiosk einziehe. In bester Lage direkt am Beatles-Platz war das Hoffen vergebens, auch hier wird ein Einzelhändler demnächst einziehen.
Bei jedem neuen leerstehenden Gebäude hoffe das BID, dass nicht schon wieder ein Kiosk einziehe. In bester Lage direkt am Beatles-Platz war das Hoffen vergebens, auch hier wird ein Einzelhändler demnächst einziehen.  © Tag24/Madita Eggers

Es fehlt an Regulierungen. So gibt es beispielsweise keine klare Unterscheidung zwischen Gastronomie und Einzelhandel mehr.

Durch eine Deregulierung gebe es jetzt zahlreiche "Zwischenversionen", so die Kiez-Kümmerin. Die Einzelhändler dürften Ausschank betreiben, haben aber oft nicht einmal Kundentoiletten: "Was in der Vollkonzession der Gastronomie undenkbar wäre!"

Juristisch dagegen vorzugehen sei schwierig: "Wenn man daran schrauben will, ist das Gegenargument die Gewerbefreiheit. Das ist nicht nur Bundesrecht, sondern im Zweifel sogar von der Verfassung geschützt", erklärt Staron, die von einer Wettbewerbsverzerrung spricht.

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"Ich finde es absurd [...], dass wir hier Betriebe haben, die ihren Hauptumsatz klar über Alkohol bestreiten. Ohne im Vergleich zur Gastronomie in die gleiche Haftungslage zu kommen."

Julia Staron: "Man kann hier halt wahnsinnig gut mitverdienen"

Immer mehr Kultstätten wie das "Molotow" müssen weichen und werden durch Kioske oder wie in dem Fall durch ein Hotel ersetzt.
Immer mehr Kultstätten wie das "Molotow" müssen weichen und werden durch Kioske oder wie in dem Fall durch ein Hotel ersetzt.  © Alice Nägle/TAG24

Vor diesem Hintergrund sei es auch kein Wunder, dass immer mehr Einzelhändler in einem Amüsierviertel wie St. Pauli mit einem (noch) existierendem Kulturangebot ihre Chance sehen.

"Man kann hier halt wahnsinnig gut mitverdienen – ohne, dass man selber ein Kulturprogramm aufstellen muss." Eine große Verantwortung liege dabei auch bei den Grundeigentümern, die an die Kioske vermieten.

Das Problem: Viele davon hätten gar keinen Bezug zum Stadtteil.

Ein Großteil der örtlich ansässigen Gastronomen wären mit auf den Distrikt begrenzten Maßnahmen wie ein Außerhaus-Verkaufsverbot für Alkohol ab 22 Uhr einverstanden, um das Flair St. Paulis zu erhalten.

Wenn nicht bald eine Lösung gefunden werde, drohe die Lage laut Staron endgültig zu kippen. "Ich warne in Richtung Bürgerschaft, Senat und die verantwortlichen Behörden auf Landesebene: 'Das hier ist euer touristischer Hotspot, euer Goldesel. Wenn ihr dieses Viertel mit diesem Thema alleine lasst, geht ihr mit durch dieses Tal und das tut richtig weh'."

Titelfoto: Tag24/Madita Eggers

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