Psychotherapie: Gestiegene Anfrage, aber zu wenig Plätze
Erfurt/Weimar/Leipzig - Zu wenige Therapeutensitze und zu viel Bedarf: Die Suche nach einem Platz für eine Psychotherapie gleicht in Thüringen einem Glücksspiel. Die Servicenummer 116117 hilft Betroffenen bei der Suche.
Pandemie, Ukrainekrieg, Klimasorgen: Die Krisen der jüngsten Vergangenheit haben in Thüringen zu einer hohen Nachfrage nach Psychotherapieplätzen geführt.
"Aktuell kann es vorkommen, dass Patienten zwischen eineinhalb und zwei Jahre auf den Beginn einer Therapie warten müssen", erklärt Dagmar Petereit, die Thüringische Landesvorsitzende der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DptV). Besonders ernst sei die Lage bei Therapieplätzen für Erwachsene und in den großen Städten wie Erfurt oder Jena.
"Die Zahl der Anfragen ist enorm gestiegen, wir können diesen kaum noch nachkommen", so die Sprecherin der ostdeutschen Psychotherapeutenkammer (OPK), Antje Orgass. Bereits vor der Pandemie sei das System an seine Grenzen gekommen.
Mit den Einschränkungen der Corona-Pandemie seien für psychisch belastete Menschen viele stabilisierende Faktoren weggefallen: soziale Kontakte, gemeinschaftliche Unternehmungen oder Reisen, ergänzt Petereit. Die Auswirkungen zeigten sich jetzt, zeitlich verzögert.
Grundsätzlich bestehe die Hoffnung, dass sich der Bedarf in einigen Jahren wieder einpegele - gleichzeitig drohe die Gefahr einer chronischen Erkrankung, wenn eine Behandlung zu lang ausbleibe, so die Expertinnen.
Neupatienten abgelehnt
Einige Therapeuten führten inzwischen lange Wartelisten. Andere lehnten alle Neupatienten ab, bis tatsächlich ein Platz frei sei - der dann dem ersten Anfragenden zugeschlagen werde, so Petereit. Gerade Patienten in Notlagen fehle aber häufig die Kraft, die Suche selbst in die Hand zu nehmen, so Orgass.
Der Weg über die Terminvergabestelle der Kassenärztlichen Vereinigung unter der Telefonnummer 116117 sei nach wie vor empfehlenswert: Allerdings werden hier zunächst nur Termine für ein Erstgespräch vermittelt - wann dann die tatsächliche Therapie beginnen kann, ist nicht sicher.
Dabei sieht die Lage im Freistaat rein rechnerisch gut aus: Von den 19 Planungsbereichen im Freistaat herrscht der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen (KVT) zufolge in 16 eine statistische Überversorgung, diese Regionen sind für neue Niederlassungen gesperrt. Nur in den Kreisen Altenburger Land und Sonneberg und im Unstrut-Hainich-Kreis könnten noch jeweils halbe Sitze vergeben werden.
Diese Rahmenbedingungen seien vor über 25 Jahren festgelegt und über die Jahre angepasst worden - könnten den tatsächlichen Bedarf aber nicht abbilden, sind sich die Befragten einig.
Kammer für angepasste Bedarfsplanung
Das derzeit effektivste Mittel sei die Arbeitsteilung: Vielerorts teilten sich zwei Therapeuten eine Niederlassung, so Petereit. Aktuell sei das der KVT zufolge etwa bei der Hälfte der Sitze der Fall. "Dieses Modell ist aktuell sehr beliebt, aber auch gefährlich", warnt Orgass: Falls die Stundenanzahl von 39 Wochenstunden pro Sitz in Zukunft einmal verringert werde, seien diese Modelle gefährdet.
Orgass sieht in den Ausnahmezulassungen ein wirksames Mittel: Dabei können Psychotherapeuten zeitlich begrenzt einen Sitz bewilligt bekommen. Solche Ansätze würden etwa in Hessen oft genutzt. In Thüringen gibt es der KVT zufolge aktuell eine solche Zulassung in Zella-Mehlis.
"Aus unserer Sicht ist es Therapeuten aber nicht zumutbar, sich für zwei oder Jahre selbstständig zu machen und dann die Zulassung wieder zu verlieren", erklärt Petereit.
Gerade, um die aktuelle Unterversorgung abzufangen, wären schnelle Lösungen nötig - rundum befriedigende Ansätze gebe es aber nicht. Langfristig wäre aus Sicht der Kammer eine angepasste Bedarfsplanung auf Bundesebene nötig. "Vor allem bräuchten wir eine Bedarfsanalyse", ergänzt Petereit. "Wie viele Therapeuten eigentlich nötig wären, wurde nie richtig untersucht."
In Thüringen gibt es der OPK zufolge aktuell 640 Erwachsenen-Psychotherapeuten, 222 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und 45 doppelt approbierte Therapeuten.
Titelfoto: Jens Wolf/zb/dpa/Montage