Während ukrainische Flüchtlinge bei uns Weihnachten feiern, sind ihre Gedanken bei den Familien daheim
Dresden - An Heiligabend und den Weihnachtsfeiertagen kommen traditionell Familien und Freunde zusammen, um gemeinsam im Schein der Kerzen des Weihnachtsbaumes das Fest der Liebe zu feiern. Kleine Gaben gehen von Hand zu Hand. Kinderaugen strahlen angesichts der geschmückten Pracht und Herrlichkeit.
Für Natalia (41) und ihre Töchter Anna (17) und Tetjana (6 Monate) werden die kommenden Tage aber eine emotionale Herausforderung werden. Sie sind vor den russischen Bomben aus der Ukraine geflohen. In Bannewitz bei Dresden fanden sie Zuflucht.
Die Wintersonne strahlt in das Wohnzimmer der kleinen Familie im Gebäude der Kulturtankstelle Bannewitz. Auf der Anrichte steht in einem Topf ein kleines, geschmücktes Tannenbäumchen. Tannengrün in einer Vase schmückt den Tisch in der Mitte des Raumes.
Natalia sitzt auf einem Stuhl am Tisch. Die Sonne wärmt ihr den Rücken. Tetjana auf ihrem Schoss hält sie liebevoll fest. Die Kleine gluckst vor Glück. Die Augen des Säuglings strahlen.
Gerald Scholz (66) freut sich, das Kind so fröhlich zu sehen. Vor wenigen Tagen plagte Tetjana noch Fieber. Der pensionierte Lehrer und seine Frau Elisabeth kümmern sich seit dem 13. März warmherzig um die Kriegsflüchtlinge.
Damals strandete die schwangere Natalia mit ihrer großen Tochter Anna zusammen mit zwei weiteren Frauen und einem damals siebenjährigen Mädchen Hilfe suchend in Dresden am Hauptbahnhof.
Als Putins Armeen immer rascher vorrückten, entscheidet sie, zu fliehen
Gerald Scholz: "Meine Tochter engagierte sich damals in der Bahnhofsmission. Sie brachte die Frauen zu uns. Wir konnten die Frauen bei uns daheim aufnehmen und in einer Ferienwohnung unterbringen."
Die Frauen kamen aus Mykolajiw. Die Hafenstadt in der südlichen Ukraine ist etwa so groß wie Dresden und seit Beginn des Krieges Ziel von russischen Bomben- und Raketenangriffen.
Eigentlich wollte Natalia ihr zweites Kind in der Heimat zur Welt bringen. Doch als Putins Armeen immer rascher auf die Stadt östlich von Odessa vorrückten, entschied sie sich, zu fliehen.
Sie ließ ihren Mann Mykola, ihre gehbehinderte Mutter, ihre Katze und einen Papagei zurück. "Bevor der Krieg zu uns kam, war ich Buchhalterin bei der Wasserversorgung. Wir hatten ein gutes Leben", berichtet Natalia in gebrochenem Deutsch.
Die Frauen flohen über Rumänien. Zehn Tage harrten sie in dem Land in einer kalten, zügigen Baracke aus.
Als sie Sachsen erreichten, war Natalia im achten Monat schwanger und hatte zehn Kilo abgenommen. Die Ärzte im Freitaler Krankenhaus stuften ihren Gesundheitszustand als kritisch ein. Ihre Begleiterin Natascha musste wegen einer Nierenbeckenentzündung stationär behandelt werden.
Bannewitzer Musikverein unterstützt die Kriegsflüchtlinge
"Tetjana erblickte am 3. Juni in Freital das Licht der Welt. Wegen des Krieges konnte ihr Vater sie noch nie in den Armen wiegen. Er kennt sie nur von Videoanrufen", berichtet Gerald Scholz.
Der Bannewitzer Musikverein, in dem sich seine Frau und er engagieren, hat es sich auf die Fahnen geschrieben, Kriegsflüchtlinge zu unterstützen. Insgesamt etwa 100 Ukrainer leben gegenwärtig in Bannewitz. Der Musikverein organisiert für sie Deutsch-Kurse, Instrumental-Unterricht sowie Tanzstunden für die Kinder.
In den Räumlichkeiten des Vereins können sich die ukrainischen Familien treffen, hier finden sie Ansprechpartner. Freiwillige richteten in ehrenamtlicher Arbeit für Natalia und ihre Töchter einfache Wohnräume her. Tiefe Dankbarkeit empfindet Natalia dafür.
Mithilfe einer Übersetzungs-App auf dem Telefon berichtet sie von ihren Lieben daheim an der Küste des Schwarzen Meeres. Natalia sagt: "Sie leben ohne Heizung und Wasser. Rundherum ist alles zerbombt. Es wurde geplündert. Täglich gibt es Raketeneinschläge und Bombenalarm in der Stadt."
Ihre Tochter Anna mag diesen traurigen Bericht nicht hören. Sie hat sich still nach nebenan zurückgezogen.
Die katholische Christin hat einen Weihnachtswunsch an Olaf Scholz
Der pensionierte Lehrer erzählt, dass Anna in der Ukraine ein Mode-College besuchte, bevor sie mit ihrer Mutter flüchtete. Die Teenagerin nahm online von Sachsen aus noch lange am Unterricht teil. Mit Lerneifer schrieb sie im Sommer nach dem ersten Ausbildungsjahr sogar noch via Internet Prüfungen mit.
Gerald Scholz: "Doch jetzt gibt es keinen Unterricht mehr. Das College wurde zerstört. Anna ist seitdem sehr verschlossen und hängt lange trüben Gedanken nach."
Natalia ist katholische Christin. Sie hat nur einen einzigen Weihnachtswunsch und eine Bitte an Kanzler Olaf Scholz (64, SPD).
Unter Tränen erklärt sie: "Ich möchte Frieden für mein Heimatland und zurück zu meiner Mutter, meinem Mann. Ich vermisse sie unendlich. Ich bitte Olaf Scholz um Luftabwehr-Systeme für die Ukraine, damit Bomben und Raketen dort nicht noch mehr Menschen töten und Häuser zerstören können."
Zuflucht in schwierigen Zeiten
Etwa 49.000 Menschen sind laut Statistischem Bundesamt von Februar bis August vor dem Krieg aus der Ukraine nach Sachsen geflohen. Staatsangehörige der Ukraine stellten damit die größte Gruppe (knapp 57 Prozent) aller Zuzüge von Nichtdeutschen dar. Fast die Hälfte dieser Flüchtlinge waren erwachsene Frauen im Alter von 18 oder mehr Jahren, beinahe ein Drittel Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.
Rund 27.100 Personen hatten Ende August in Sachsen eine syrische Staatsangehörigkeit und standen somit an zweiter Position. Hier lag der Anteil erwachsener Frauen bei rund 23 Prozent (6100). Unter 18 Jahre waren etwas mehr als ein Drittel (9500) der Menschen.
Durch die verstärkten Flucht- und Zuwanderungsbewegungen stieg die Zahl der Nichtdeutschen in Sachsen bis Ende August auf insgesamt 287.100 Personen an. Der Ausländeranteil stieg damit von 5,7 Prozent Ende 2021 auf sieben Prozent Ende August 2022.
Titelfoto: IMAGO/ZUMA Wire, Norbert Neumann (2)