Interview mit neuem Kreuzkantor: "Die Tradition des Kreuzchors ist wie ein Teil meiner DNA"
Dresden - Martin Lehmann (49) ist neuer Kreuzkantor. Er ist Nachfolger von Roderich Kreile (65), der den Posten ein Vierteljahrhundert innehatte.
Lehmann kam in Malchin, Neubrandenburg, zur Welt und wuchs in Dresden auf, wo er ab 1983 selbst als Kruzianer sang. Nach dem Abitur studierte er an der Hochschule für Musik "Carl Maria von Weber" Chordirigieren.
Anschließend war er Leiter des Leipziger Mädchenchores "Schola Cantorum", der Wuppertaler Kurrende und zuletzt, seit 2012, des Windsbacher Knabenchors. Mit Beginn September tritt er sein neues Amt in Dresden an.
TAG24: Herr Lehmann, der Windsbacher Knabenchor, den Sie zehn Jahre leiteten, gilt manchem als bester Knabenchor Deutschlands - was wohl Ihr Verdienst mit ist. Warum geht man dort freiwillig weg?
Martin Lehmann: Da gibt es unterschiedliche Gründe. Es liegt sicher ein bisschen in der Biografie begründet. Ich war selbst Kruzianer, und tatsächlich ist mir der Kreuzchor nie aus dem Blick geraten. Dann sind da andere Überlegungen, die haben auch mit den Lebensjahren zu tun.
Ich bin 49, also in einem Alter, in dem ich für einen Stellenwechsel noch interessant bin. Da stellt sich die Frage ein, ob man nicht noch mal etwas Neues probiert. Wenn nicht jetzt, wann dann? Ich freue mich sehr auf die Rückkehr nach Dresden, gleichzeitig scheide ich mit Wehmut von Windsbach.
TAG24: Was am Kreuzchor zieht Sie zurück?
Lehmann: Der Chor ist mit seinen mehr als 800 Jahren die älteste Ausbildungsstätte der Stadt. Seine Tradition ist wie ein Teil meiner DNA. Den Oratorien-Kanon zu pflegen, die Auftritte an den großen Festtagen Ostern und Weihnachten, das ist für mich nicht nur mit Erinnerungen verbunden, sondern ein großer Reiz.
Ebenso die Aufgabe, den Chor zu entwickeln und Antworten auf die Frage zu finden, auf welche Weise man ihn am besten in die Stadt hineinwirken lässt. Denn eben dies ist der Kreuzchor: eine Institution, die für alle Menschen in Dresden da ist.

TAG24: Vor knapp vierzig Jahren waren Sie selbst Kruzianer. Was ist Ihre prägendste Erinnerung an diese Zeit?
Lehmann: Die stärksten Eindrücke kommen aus der Zeit der Wende. Der Kreuzchor war Reisekader, ich erinnere mich an ein Konzert in Essen. Es war kurz vor der Wende, wir sangen in der Villa Hügel. Eine schöne, moderne Stadt und sehr grün. Dann lernten wir im Staatsbürgerkunde-Unterricht, wie schlimm es um das Ruhrgebiet bestellt und wie groß dort die Zerstörung sei.
Die Wirklichkeit war ganz anders als die Propaganda. Einige von uns haben bei den Montagsdemos mitgemacht. Das war verboten, aber wir haben es trotzdem getan und dabei den Volkspolizisten weiße Blumen überreicht. Später brachen wir auf einer Konzertreise in Berlin unmittelbar hinter dem heutigen Bundestag Steine aus der Mauer.
TAG24: Wenn Sie den Kreuzchor zu Ihrer Zeit als Kruzianer vergleichen mit dem Kreuzchor heute - welche Unterschiede stellen Sie fest?
Lehmann: Das betrifft in verschiedener Hinsicht wohl vor allem die Kommunikation. Der Chor hat einen klaren Leistungsanspruch, der Konzentration erfordert und den es zu erhalten gilt. Die Kinder sind in der heutigen Medienwelt ungleich mehr Einflüssen ausgesetzt als damals. Darauf muss sich das Chorleben einstellen.
Das ist in hohem Maß eine soziale Aufgabe, denn schön lässt sich nur singen, wenn Stimme, Körper und Seele im Einklang sind. Unsere Aufgabe besteht auch darin, die Kinder und Jugendlichen mündig zu machen für die gesamte Breite des Lebens. Das bezieht die Eltern mit ein, die heute mehr als früher Teil des Chorlebens sind.
TAG24: Welches ist das Ziel Ihrer Ägide als Kreuzkantor, welche Schwerpunkte setzen Sie?
Lehmann: Ich werde dafür arbeiten, dass der Kreuzchor einer der modernsten und innovativsten Knabenchöre im deutschsprachigen Raum wird und sein Klang unverkennbar ist.
TAG24: Was werden Sie anders machen als Ihr Vorgänger?
Lehmann: Das kann ich noch nicht sagen. Ich gehe mit den Jungen jetzt erst mal auf Entdeckungstour. Die Handschrift muss sich entwickeln.
TAG24: Können Sie den Kreuzchor besser machen als er ist?
Lehmann: Ich würde eher von Anknüpfen sprechen als von Verbesserung. Der Kreuzchor ist von meinem Vorgänger großartig aufgestellt worden. Ich werde versuchen, das Programm ein bisschen breiter zu entwickeln, auf der einen Seite im zeitgenössischen Repertoire, auf der anderen Seite im Zusammenwirken mit Alten Instrumenten, etwa bei der Musik von Heinrich Schütz. Im A-cappella-Bereich strebe ich eine große Repertoirefülle an.
TAG24: Der Chor hat sich in den zurückliegenden Jahren verstärkt auch weltlichen Musikformaten zugewandt, Stichwort Stadionkonzert. Das ist von Kritikern, die dadurch die christliche, kirchliche Tradition beschädigt sehen, moniert worden. Wo stehen Sie in dieser Frage?
Lehmann: Ich halte so etwas unbedingt für notwendig. Der Chor ist eine städtische Einrichtung, die auf unterschiedliche Weise in die Stadt hineinwirken soll. Ich gehe davon aus, dass wir die Stadionkonzerte fortsetzen werden, ebenso weitere Auftritte bei den Musikfestspielen, zum Beispiel in Pillnitz, im Hauptbahnhof und anderswo. Wir werden auch zusätzliche Formate entwickeln.

TAG24: Das Konzept Knabenchor ist nicht unumstritten. Sollte der Kreuzchor Mädchen aufnehmen?
Lehmann: Der Knabenchor ist einer der ältesten Chorgattungen. Das liegt auch daran, dass es früher nur Männern erlaubt war, in der Kirche zu singen. Das ist zum Glück nicht mehr so. Ich bin trotzdem davon überzeugt, dass der Knabenchor ein zeitgemäßes Konzept ist, nicht zuletzt deshalb, weil Knabenstimmen einen spezifischen Klang erzeugen.
Darüber hinaus meine ich, dass ein solches Organisationsformat unbedingt notwendig ist, wenn Jungen sich eigenständig künstlerisch entfalten wollen. So wie es auf anderem Gebiet Sportvereine mit separaten Frauen- und Männermannschaften leisten.
TAG24: Verletzt das Festhalten am Prinzip Knabenchor nicht die berechtigte Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit?
Lehmann: Geschlechtergerechtigkeit wird nicht erzielt, indem man einfach alle Chöre mischt. Es müsste vielmehr darum gehen, Mädchenchören ein entsprechendes Angebot zu machen. Mädchenchöre haben auf ihre Weise ein eigenes künstlerisches Profil, dem Prinzip nach den Knabenchören ähnlich.
Vergleichbare Chorinstitutionen mit Internatsunterbringung für Mädchen gibt es aber kaum. Das ist die Stellschraube, an der gedreht werden muss.
TAG24: Der Kreuzchor wird sich auch dem Genderdiskurs stellen müssen.
Lehmann: Natürlich. Wir haben 140 Jungen im Chor und sind ein Abbild der Gesellschaft. Das betrifft sicher auch die sexuellen Neigungen, die uns grundsätzlich nicht zu interessieren haben, weil es Privatsache ist. Wir sind froh, dass es diese Freiheit gibt. Jeder junge Mensch muss und soll sich selber finden.
TAG24: Ist es so einfach? Was würde etwa der Vollzug einer Geschlechtsanpassung für die Zugehörigkeit eines Kruzianers zum Chor bedeuten, wenn doch Mädchen per Satzung ausgeschlossen sind? Haben der Chor und sein Träger dafür Richtlinien entwickelt?
Lehmann: Um ehrlich zu sein, weiß ich das noch nicht … Ich bin aber sicher, dass in diesem angenommenen - und vermutlich extrem seltenen - Fall alle Beteiligten von Kreuzchor, Elternschaft und städtischen Verantwortlichen zum Wohl des/der Jugendlichen agieren würden und eine pragmatische, tragfähige und individuelle Lösung fänden.
TAG24: Ihr Vorgänger war 25 Jahre im Amt. Auf welche Zeit stellen Sie sich ein?
Lehmann: Mein Vertrag ist auf zehn Jahre ausgelegt. Dann bin ich Ende fünfzig. Das Weitere wird man beurteilen müssen, wenn es so weit ist. Von heute aus gesehen wäre, bis zum Ruhestand Kreuzkantor sein zu dürfen, eine schöne Perspektive für mich.
Titelfoto: Amac Garbe