Dieser Häftling wurde einer der bedeutendsten Schriftsteller der Welt
Waldheim - Es ist eine kleine Tasche mit Habseligkeiten, die der soeben entlassene Häftling Karl May am 2. Mai 1874 aus dem Tor des Zuchthauses Waldheim trägt. Viereinhalb Jahre Freiheitsentzug in einer der schärfsten Strafanstalten Sachsens liegen hinter ihm.
Auch vorher hat der glücklose Hochstapler und Kleinkriminelle schon ein paarmal "gesessen". Jetzt aber, mit 32 Jahren, soll sein neues Leben in Freiheit beginnen.
Was in diesem Moment niemand ahnt: May wird fortan den Traum von Freiheit und Abenteuer in Millionen Deutschen entfachen, Heerscharen von glühenden Verehrern haben - mithilfe seiner überbordenden Fantasie.
Als fünftes von 14 Kindern einer Weberfamilie kommt Karl May 1842 in Ernstthal zur Welt. Reichtümer findet er dort keine vor. Immerhin animiert ihn sein Vater zum Lesen. Ab 1856 besucht May ein Lehrerseminar, fliegt aber wegen der Unterschlagung von sechs Kerzen zunächst raus.
Derlei läppische Delikte - und ein paar gravierendere - sollten sich auch in den Folgejahren durch Mays Leben ziehen. Zwar wird er in Plauen wieder zu einem Lehrseminar zugelassen, doch bandelt er bei seiner ersten Anstellung in Glauchau prompt mit einer verheirateten Frau an, was deren Gatten nicht gefällt - wieder fliegt May raus.
Bei einer Anstellung in einer Fabrik 1861 leiht Karl May sich eine Taschenuhr von einem Mitbewohner, "vergisst" aber, sie vor den Weihnachtsferien zurückzugeben - für sechs Wochen wird er in Chemnitz inhaftiert.
Karl May begnadigt aber keinesfalls geläutert
Eine wirkliche Lehre ist ihm das scheinbar nicht. Wohl auch, weil das Geld nie reicht, trickst und gaunert sich May weiter durchs Leben. Oder ist es der Reiz des Verbotenen, das Abenteuer, das ihn in solchen Momenten kitzelt? Unklar.
Jedenfalls wird mal für teure Pelze nicht gezahlt, mal im Gasthof die Zeche geprellt - bis ein Leipziger Gericht den Tunichtgut und Wiederholungstäter zu etwas mehr als vier Jahren Haft im Zwickauer Schloss Osterstein verdonnert (1865 bis 1868).
Frühzeitig begnadigt - aber keinesfalls geläutert -, macht der glücklose May weiter mit oft trickreichen Husarenstücken von sich reden. Mal beschlagnahmt er bei einem Krämer als falscher Polizist angebliches Falschgeld, mal klaut er Billardkugeln oder gleich ein ganzes Pferd.
Bei einer Festnahme 1869 in Hohenstein kann der spätere Schriftsteller noch türmen; in Böhmen wird er aber ein halbes Jahr später als Landstreicher aufgegriffen. Sein Märchen, er sei ein Plantagenbesitzer aus der Karibik, wird fix widerlegt.
Karl May muss erneut in Sachsen vor Gericht und wird nun zu vier Jahren Zuchthaus in Waldheim verurteilt. Spätestens jetzt ist auch ihm klar: Ein Zuckerschlecken wird das nicht.
Der Sträfling Nummer 402 kommt in Isolationshaft
Am 3. Mai 1870 tritt der Verurteilte die Strafe an. Als Sträfling Nummer 402 kommt er zunächst in nächtliche Isolationshaft. Die Sitten sind streng: Auch während der Arbeit als Zigarrendreher oder beim Hofgang darf der fantasievolle Filou nicht mit anderen Häftlingen sprechen.
Die noch von August dem Starken eingeweihte Haftanstalt sieht für Rückfällige damals noch drakonische Strafen vor, zum Beispiel das Tragen von Klotz und Kette oder die "körperliche Züchtigung".
Im Großen und Ganzen scheint sich May als Sträfling meist an die Regeln gehalten zu haben, jedenfalls geben die Akten nur eine einmalige Bestrafung innerhalb der Haftzeit her. Im Entlassungsschreiben findet sich auch eine Art Beurteilung wieder: "... kalt, gleichgültig, hochmütig ... etwas entkräftet, sonst arbeitsfähig ..." heißt es darin.
Und: "... will nach Amerika auswandern ..." Das tut er denn auch - als sein "zweites Ich" Old Shatterhand in seinen späteren Büchern.
Mit Fleiß und Fantasie
Gleich nach seiner Haftentlassung begann Karl May mit dem Schreiben. Erst für Zeitschriften, dann Bücher. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Winnetou-Romane und die Orient-Erzählungen um Kara Ben Nemsi.
Die Gesamtauflage all seiner Werke soll bei 200 Millionen Exemplaren liegen. An die Schauplätze all dieser Abenteuer reiste May selbst erst spät: 1899/1900 in den Orient, 1908 in die USA.
Lange Zeit verschwieg Karl May seine Vorstrafen und Haftzeiten. Erst als er von Kritikern förmlich dazu gedrängt wurde, räumte May diese Zeit ein und bezeichnete sie als eine Art "Studienzeit".
1912 starb er in seiner neuen Heimat Radebeul. Dort, aber auch in seinem Geburtshaus in Hohenstein-Ernstthal, gibt es heute Museen zu Karl Mays Leben und Werk.
Weitere Infos unter karl-may-museum.de und karl-may-haus.de.
Titelfoto: Sächsisches Strafvollzugsmuseum, PR