Chefdirigent Christian Thielemann im TAG24-Interview: Es ist das letzte Mal
Dresden - Christian Thielemann (63), Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle, steht wieder mal im Zentrum kulturpolitischer Aufmerksamkeit. Seine Amtszeit in Dresden endet mit der kommenden Spielzeit. Wird er anschließend zur Berliner Staatskapelle wechseln?
Deren Chef, Daniel Barenboim (80), hat seinen Rücktritt erklärt. Nun gehört Thielemann, der den erkrankten Barenboim jüngst in zwei Zyklen von Wagners "Der Ring des Nibelungen" vertrat, zu den Favoriten auf die Nachfolge.
Ein neues Festengagement oder doch lieber freischaffend um die Welt reisen? TAG24 sprach mit dem Dirigenten nicht nur über dieses Thema.
Auch verrät Thielemann, mit welchem Werk er sich im Sommer 2024 von Dresden verabschieden wird.
Angriffskrieg Russlands gegen Ukraine bringt auch Klassik-Welt in Turbulenzen
TAG24: Herr Thielemann, es ist jetzt die Zeit, in der Sie in Dresden Dinge zum letzten Mal tun. Das Silvesterkonzert mit Beethovens Neunter war, da Sie 2024 das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker leiten werden, Ihr letztes als Chefdirigent. "Alle Menschen werden Brüder", heißt es im berühmten Schlusssatz der Neunten. Im Moment sieht die Welt weniger denn je danach aus. Wollten Sie mit dem Konzert eine politische Botschaft aussenden?
Christian Thielemann: Es ist banaler. Ich hatte die Neunte hier zu Silvester noch nie aufgeführt, deshalb wollte ich sie machen. Als wir das planten, gab es den Krieg in der Ukraine noch nicht. Aber natürlich passte Beethoven in dieser Zeit besser als ein Operettenprogramm. Es hat sich zu Silvester gut gefügt.
TAG24: Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bringt auch die Klassik-Welt in Turbulenzen. Außer Anna Netrebko und Valery Gergiev ist Ihr griechisch-russischer Kollege Teodor Currentzis wegen Nähe zu Putin unter Beschuss. Zu Recht?
Thielemann: Eine schwierige Abwägung. Netrebko und Gergiev sind mir gut bekannt, wenn auch der Kontakt zu Gergiev inzwischen abgerissen ist. Es sind tolle Künstler. Dass sie bei uns nicht mehr oder nur selten auftreten können, ist ein Verlust für die Kunst. Das wäre auch im Fall Currentzis so, wenn er eine solche Entwicklung nähme. Ich kenne ihn persönlich nicht. Die Verstrickung ins Politische ist sicher ein Problem.
Was würde Thielemann bei einer Einladung aus Russland tun?
TAG24: Muss man als Künstler im Angesicht des Krieges nicht eindeutig Haltung beziehen? Currentzis schweigt bislang.
Thielemann: Es ist leicht, das zu fordern, wenn man die Konsequenzen, die eine Positionierung möglicherweise nach sich zieht, nicht selbst tragen muss. Ich möchte keine wohlfeilen Ratschläge geben.
TAG24: Haben Sie jemals Angebote aus Russland erhalten?
Thielemann: Ich bin im Rahmen von Tourneen mit den Wiener und Münchner Philharmonikern einige Male in Russland aufgetreten. Das ist lange her. Mit russischen Orchestern gearbeitet, im Bolschoi oder Mariinsky, habe ich nie. Gergiev lud mich einige Male ein, aber aus terminlichen Gründen ist es nie dazu gekommen.
TAG24: Was täten Sie, wenn jetzt eine Einladung käme?
Thielemann: Ich würde sie, künstlerisch gesehen, gerne annehmen, aber angesichts des Krieges wäre es unmöglich.
TAG24: In Vertretung von Daniel Barenboim erlebten Sie jüngst Triumphe mit der anderen Staatskapelle, der aus Berlin. Barenboim ist inzwischen zurückgetreten. Ihr Name wird für die Nachfolge immer wieder genannt.
Thielemann: Dazu gibt es nichts Neues zu sagen. Ich bin in Dresden bis Mitte 2024 unter Vertrag und habe anschließend einen prall gefüllten Terminkalender.
Das viele Herumreisen hat laut Thielemann auch Nachteile
TAG24: Als Nachfolger Barenboims genannt zu werden, ist doch aber überaus ehrenvoll.
Thielemann: Zumal ich mit Berlin nicht gerechnet hatte. Mein Debüt bei der Staatskapelle stand seit Langem aus. Als die Anfrage kam, den Kollegen Blomstedt zu vertreten, habe ich spontan zugesagt. Nachdem es so wunderbar mit dem Orchester lief, rief Barenboim mich an und bat: 'Bitte hilf mir beim Ring.' Er selbst wollte es aus gesundheitlichen Gründen nicht wagen. Ich bin fast vom Stuhl gefallen! Wir haben dann alle paar Tage miteinander telefoniert.
TAG24: Wäre als freischaffender Stardirigent gut bezahlt durch die Welt zu jetten für Sie nicht viel verlockender als das nächste Festengagement?
Thielemann: Das Herumreisen hat auch Nachteile. Es nimmt einem die Möglichkeit, einem Orchester den Stempel aufzudrücken. Man ist ja immer nur zu Gast. Ein Ensemble musikalisch zu prägen, geht nur im Festengagement. Ich war bisher beinah immer im Festengagement, insofern ist die Situation jetzt neu für mich. Ich sehe aber mit Freude, dass sich dadurch neue Möglichkeiten ergeben. Die Entscheidung der Sächsischen Staatsregierung war gerade erst öffentlich geworden, als noch am selben Tag in meinem Büro das Telefon nicht mehr stillstehen wollte. Ein Angebot nach dem anderen ging ein. Das ging in den folgenden Wochen so weiter. Also ja, es ist eine verlockende Aussicht.
TAG24: Wie sehen Sie, Stand heute, Ihre Zukunft nach Ende des Vertrages in Dresden?
Thielemann: Ich habe zum Beispiel an der Mailänder Scala noch nie eine Oper dirigiert, 2024 mache ich dort einen "Ring". Ich werde oft in Wien sein, an der Oper wie bei den Philharmonikern. Mit einem bestimmten Opernhaus - ich verrate nicht, welches! - habe ich Planungen bis 2029.
Thielemann im Vergleich mit Liverpool-Trainer Klopp
TAG24: Liverpools Trainer Jürgen Klopp hat, angesprochen darauf, ob er sich nicht doch vorstellen könnte, Bundestrainer zu werden, gesagt, es sei nicht völlig ausgeschlossen, aber es müsse halt passen. Wäre das auch Ihre Antwort auf die Frage nach Berlin?
Thielemann: Es muss einfach passen, in der Repertoireplanung und in allen anderen relevanten Fragen. Ich wähle heute nach anderen Kriterien aus als früher. Man muss kein festes Engagement mehr annehmen. Wenn dagegen die Rahmenbedingungen stimmen, dann fügt sich was.
TAG24: Sie werden dieses Jahr nicht in Bayreuth dirigieren. Ist das Ausdruck wachsender Distanz?
Thielemann: Ach wo, zu Bayreuth habe ich keine Distanz. Ich habe schlicht keine Zeit, deshalb setze ich zwei Jahre aus, dieses und nächstes Jahr.
TAG24: Was tun Sie den Sommer über, wenn Sie nicht in Bayreuth sind?
Thielemann: Urlaub machen, weil ich dann die Jubiläumsspielzeit 475 Jahre Sächsische Staatskapelle vor mir haben werde und damit Konzerte und Tourneen verbunden sind.
TAG24: 2024 leiten Sie zum zweiten Mal das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Ist zum zweiten Mal eingeladen zu werden noch ruhmvoller als zum ersten?
Thielemann: Man entwickelt sich weiter: Uns verbindet eine außerordentliche Freundschaft. Es gibt ein Maß der künstlerischen und menschlichen Übereinstimmung, das einzigartig für mich ist.
Thielemann: "Es ist das letzte Mal"
TAG24: Ihr Dresdner Vertrag endet ein halbes Jahr später. Wie wird es weitergehen mit Ihnen und der Staatskapelle? Wir gehen davon aus, dass Sie als Gastdirigent regelmäßig wiederkommen werden.
Thielemann: Aus meiner Sicht: Ja. Natürlich will ich das! Es ist eine wunderbare Zusammenarbeit mit dem Orchester. Die Staatskapelle ist ein fester Bestandteil meiner musikalischen Identität. Verabredete Projekte gibt es aber noch nicht.
TAG24: Das heißt, es sind bald zwei Jahre seit Ankündigung der Trennung ins Land gegangen, ohne Termine zu machen. Wie kann das sein?
Thielemann: Nach der Entscheidung der Staatsregierung herrschte anfangs eine Zeit der Schockstarre. Als sich die gelegt hatte, gab es einen Vorschlag, der aber terminlich nicht möglich war. Wir sind jetzt wieder in Gesprächen.
TAG24: Daniele Gatti wird Ihr Nachfolger. Er war wie Sie vor 20 Jahren schon einmal Kandidat, damals fiel die Wahl des Orchesters auf Fabio Luisi. Dem folgte Thielemann, dem nun Gatti folgt - fast scheint es, als sei die Staatskapelle in einem Kandidatenkorsett gefangen. Wie schauen Sie auf Gatti?
Thielemann: Daniele kenne ich seit mehr als 30 Jahren. Er war Musikdirektor beim Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom, als ich auch oft dort war. Wir standen immer wieder in Kontakt. Er ist ein sehr erfahrener Dirigent mit großem Repertoire. Sicher wird er andere Schwerpunkte setzen als ich.
TAG24: In wenigen Tagen dirigieren Sie an der Semperoper zwei Zyklen des "Rings". Ist auch dies ein letztes Mal oder ist für Ihre letzte Spielzeit noch etwas geplant?
Thielemann: Es ist das letzte Mal.
Womit verabschiedet sich Thielemann?
TAG24: Gespielt wird noch immer die alte Inszenierung von Willy Decker. Hätten Sie während Ihrer Amtszeit gern eine Neuproduktion geleitet?
Thielemann: Nein, das ist eine Inszenierung, die noch immer gut funktioniert. Man sollte froh sein, dass man sie hat.
TAG24: Ihr Kollege Marek Janowski hat den "Ring" mit der Dresdner Philharmonie im Herbst konzertant im Kulturpalast aufgeführt. Haben Sie die Produktion verfolgen können?
Thielemann: Leider nicht, das war von der Berliner Produktion überlagert. Ich weiß aber aus Bayreuth, wie er Wagner dirigiert. Es gefällt mir sehr. Der weiß genau, was er tut.
TAG24: Die Planung für Ihre Abschiedssaison 2023/24 wird schon stehen, nehmen wir an. Verraten Sie uns bitte, mit welchem Werk Sie sich verabschieden werden!
Thielemann: Mit der 8. Symphonie von Gustav Mahler, der sogenannten Symphonie der Tausend. Die ist zuletzt 1932 unter Leitung von Fritz Busch von der Staatskapelle aufgeführt worden. Ich habe sie in München dirigiert, seither nicht wieder. Ursprünglich war die Achte von Bruckner vorgesehen, weil sie damals mein Einstand in Dresden war. Die habe ich aber so oft gemacht, dass wir es wieder verworfen haben. Nun ist es so, dass ich in meinem Büro die Partitur der Mahler-Symphonie liegen hatte, da haben wir gedacht, wir bleiben bei der Achten, nehmen aber die von Mahler ...
Titelfoto: Matthias Creutziger