Besuch im Nachtcafé: Das berichten Menschen, die in Dresden auf der Straße leben!
Dresden - Seit fast 30 Jahren suchen Dresdens Obdachlose zur Winterzeit in Kirchenräumen Zuflucht. Im "Nachtcafé" schlafen bis zu 25 Menschen jede Nacht. Wer sind die Dresdner, die hier übernachten müssen? TAG24 hat mit ihnen gesprochen.
Ronny (44) war früher selbstständiger Handwerker, vor acht Jahren scheiterte sein Betrieb. Seither sammelt er tagsüber zwischen Hauptbahnhof und der Neustadt in Dresden Pfandflaschen, schlägt sein nächtliches Lager unter der Marienbrücke auf.
"Ab Herbst brauche ich bis zu sechs Schlafsäcke, um warm zu bleiben", sagt der gebürtige Chemnitzer. Dann ist er heilfroh, für einen Obolus von einem Euro (vier Pfandflaschen) im Nachtcafé zu schlafen, kehrt er "erst" morgens um sieben zurück in den Straßenalltag.
"Flaschen zu sammeln, ist ein hartes Brot, weil es immer mehr Konkurrenz gibt, bis hin zu Faustschlägen", berichtet Ronny.
Hinzu komme, dass Betteln durch Bettler-Banden auf der Prager Straße schwieriger geworden sei. "Auf Dauer ist das kein Leben. Ich trinke täglich mindestens zehn Bier, um es erträglich zu machen."
Auch sein Kumpel Hans-Joachim (45) hadert mit seinem Leben als Obdachloser in Dresden. Er wohnt erst seit einem Jahr in Sachsen, zuvor wurde ihm als ungelernter Produktionshelfer in Brandenburg gekündigt. "Ich wollte einen Neustart", so der 45-Jährige - und landete neben Ronny unter der Marienbrücke.
Nur in der Nachtcafé-Saison gibt es jeden Abend eine warme Mahlzeit
Um Geld für Nahrung und Alkohol aufzutreiben, sind sie auf den Pfandmüll und die Spendierhosen Fremder angewiesen, die Ausbeute immer ungewiss. Nur in der Nachtcafé-Saison gibt es jeden Abend eine warme Mahlzeit.
Nachtcafé-Koordinator Gerd Grabowski (77), früher Ingenieur, kennt solche Schicksale zur Genüge: "Üblicherweise läuft es so ab: Es kriselt in der Beziehung, dann kommen Alkohol und finanzielle Probleme dazu, irgendwann die Räumungsklage. Die allermeisten Betroffenen kommen ohne Alkohol nicht aus."
Die Duftkulisse im Nachtcafé spricht eine deutliche Sprache. Neben dem Geruch saurer Milch durch ungewaschene Kleidung tragen nicht wenige Gäste eine Alkoholfahne vor sich her. Dabei ist Alkoholkonsum in den Gemeinderäumen selbst streng verboten.
Ob alkoholisiert oder nicht: Mancher hier spricht erstaunlich offen über sein Schicksal. Darunter Bürgergeldempfänger Ulrich* (60), seit zehn Jahren wohnungslos in Dresden. Er gibt zu, dass sein Vagabunden-Dasein Vorteile habe: "Man hat seine Freiheiten, ich bin gezwungen, früh aufzustehen und mich zu bewegen. Mit Wohnung würde ich faul werden", spekuliert der Dresdner.
*Name geändert
Viele der Obdachlosen wollen nicht erkannt werden
Als Wohnungsloser mit regulärem Bürgergeld-Einkommen muss er keine Flaschen sammeln, hält sich tagsüber in Cafés oder Krankenhäusern auf oder liest in der Sächsischen Staats- und Landesbibliothek Zeitung. Schließlich hat diese Bibliothek selbst am Wochenende lange geöffnet.
Viele der Obdachlosen im Dresdner Nachtcafé wollen nicht erkannt werden, weil sie die Hoffnung auf ein Leben "nach der Straße" nicht aufgegeben haben. Scham spielt ebenso eine Rolle - mancher verheimlicht Bekannten seine prekäre Lage. "Mit einem Freund halte ich übers Telefon Kontakt. Er weiß nicht, wie mein Alltag aussieht", erklärt Ulrich.
Mittlerweile kehrt im Nachtcafé auch ein, wer "nur" bedürftig ist, essen und Kontakte pflegen möchte. So wie der frühere Bauarbeiter Steffen (63) mit Freundin Lilija (51). "Ich habe einen Traum", verrät Steffen, der Sozialleistungen bezieht, weil er wegen Krankheit nicht mehr arbeiten kann. "Ich möchte ein altes Haus für Obdachlose ausbauen, damit sie dauerhaft einen Unterschlupf haben."
Nicht nur er träumt von einem anderen Leben. Sogar Ulrich, der seinem Wohnungslosen-Alltag Positives abgewinnt, sagt gegenüber TAG24: "Ich bemühe mich um eine Wohnung." Auch die beiden Freunde Hans-Joachim und Ronny wollen das Flaschensammeln hinter sich lassen, wieder ganz normal arbeiten gehen. Ein klares Ziel hat Ex-Handwerker Ronny: "Ich will unbedingt wieder auf Montage."
Sieben Gemeinden, eine Idee
Das Hilfsangebot "Nachtcafé" wurde 1995 auf Initiative von Studenten der Evangelischen Hochschule in Dresden gegründet. In der kalten Jahreszeit (1. November bis 31. März) organisieren inzwischen rund 250 Ehrenamtliche Abendessen und einen Schlafplatz für Obdachlose, morgens gibt es Frühstück.
Möglich wird das durch Großküchen-Spenden und sieben Dresdner Kirchgemeinden, die sich am Projekt beteiligen: Im wechselnden Turnus öffnen sie in der Nachtcafé-Saison täglich ab 19 Uhr ihre Gemeinderäume. Darin können bis zu 25 Obdachlose pro Nacht schlafen.
Vergangenes Jahr zählte das Nachtcafé rund 3200 Gäste, darunter einige Stammgäste. Weitere Infos gibt es unter www.diakonie-dresden.de/spenden-helfen/nachtcafes.
Titelfoto: Bildmontage: Christian Juppe (2)