Die große Bilanz vorm Tag der Deutschen Einheit: Wie ist die Lage im Osten nach 30 Jahren Westen?
Dresden - Zum 30. Mal jährt sich kommenden Sonnabend der Tag der deutschen Wiedervereinigung. Seit Wochen laufen die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten. Der Rotkäppchen-Sekt ist kaltgestellt. Doch werden wirklich überall die Korken knallen? Die Stimmung in Ostdeutschland im Allgemeinen und Sachsen im Speziellen schwankt zwischen Frust und Frohsinn. Höchste Zeit für eine Bilanz: 30 Jahre Westen - es war nicht alles schlecht.
Einwohnerzahl und Einkommen: Frauenmangel und Abrissbirnen
Sachsens Bevölkerung schrumpft seit 1990. Binnen 30 Jahre sank die Einwohnerzahl von 4,764 Millionen auf 4,072 Millionen. Gleichzeitig stieg die Lebenserwartung um fast sechs Jahre. Der Altersdurchschnitt im Land legte zu - von knapp 40 Jahre auf 46,9 Jahre.
Auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand kehrten tausende Frauen und Männer in den 1990er Jahren Sachsen den Rücken.
Die Folgen dieser Völkerwanderung gen Westen spürt man noch heute. In der Lausitz und in Nordsachsen herrscht Frauenmangel. Kommunen wie Hoyerswerda, Weißwasser und Niesky bluteten aus. Plötzlich standen dort massenhaft Wohnungen leer.
Um zu verhindern, dass Geisterstädte entstehen, holte man Abrissbirnen und Bagger.
1995 zählte Sachsen mit einem Haushaltseinkommen je Einwohner von 11.679 Euro zu den ärmsten Ländern der Republik.
Heute beträgt das Haushaltseinkommen je Einwohner 20.355 Euro. Das ist bei weitem nicht spitze (Bundesdurchschnitt: 22.899 Euro), doch das Saarland hat man damit inzwischen überholt.
Umwelt: Biber, Wolf und saubere Luft
Mit dem Mauerfall begann die Erfolgsgeschichte des Naturschutzes. Dem schonungslosen Raubbau an der Natur und der Umweltverschmutzung wurde Einhalt geboten.
Noch kurz vor der Wiedervereinigung sicherte der letzte DDR-Ministerrat mit dem Nationalparkprogramm dauerhaft Großschutzgebiete - darunter die Sächsische Schweiz.
Sachsen besitzt heute mit dem UNESCO-Biosphärenreservat Oberlausitzer Heide- und Teichlandschaft ein Juwel, das in einer Liga mit der Serengeti "spielt".
Das erste Wildnisgebiet Deutschlands entwickelt sich auf dem einstigen Truppenübungsplatz Königsbrücker Heide. Das Comeback von Biber, Seeadler, Eisvogel und Wolf spricht für sich.
"Wir können mit Recht stolz darauf sein, was die neuen Bundesländer nach 1990 beim Umweltschutz erreicht haben. In viele Flüsse, die damals ökologisch tot waren, ist das Leben zurückgekehrt", so Dirk Messner (58), Präsident des Umweltbundesamts.
Und weiter: "Die Luft, die vor 30 Jahren in manchen Regionen beißend war, ist heute wieder fast überall unter den geltenden Grenzwerten."
Image: Das Klischee vom tumben Sachsen
Ist sächsisch sexy? Da gehen die Meinungen auseinander. Generationen von Komikern sind seit der Wende mit Witzen auf Kosten von (sächselnden) Ossis erfolgreich.
Stefan Raab landete 2000 mit dem Ulk-Song "Maschen-Draht-Zaun" einen nationalen Hit und brachte damit nicht nur die resolute Regina Zindler aus Auerbach im Vogtland um den Schlaf.
Bis heute feixt die Nation, wenn das Klischee vom tumben Sachsen (Ostdeutschen) bedient wird. Man erinnere sich nur an die vielen hämischen Berichte und Sketche über den "Hutbürger", der 2018 als Pegida-Sympathisant am Rande eines Aufzuges gefilmt wurde.
Kann es da entschädigen, dass sich etwa der Dresdner Schauspieler Wolfgang Stumph (74) trotz (oder wegen) seines Dialektes in die Herzen von Millionen Deutschen gespielt hat?
Auch Comedian Olaf Schubert (52) aus Elbflorenz besitzt Fans in ganz Deutschland.
Reise- und Meinungsfreiheit: Freies Reisen, freie Meinungen
Der Eiserne Vorhang ist gefallen. Der Kampf der DDR-Bürger für Reisefreiheit führte zum Ziel. Mit einem bundesdeutschen Pass steht jedem seit Juli 1990 die Welt offen.
Malle, Marokko, Mali, Miami oder Melbourne - überall traf man vor Corona Sachsen. So wird es wieder werden! Die Feststellung des Leipziger Sängers Jürgen Hart ("Sing, mei Sachse, sing“) hat Bestand: Der Sachse liebt das Reisen sehr!
Das Recht auf Meinungsfreiheit gab es auch in der DDR (Artikel 27 der Verfassung). Allerdings musste die Meinungsäußerung den Grundsätzen der Verfassung entsprechen, um "legal" zu sein.
Ein Spruch, politischer Witz oder kritischer Kulturbeitrag über die SED-Führung genügte schon, dass man als "Staatsfeind" diskriminiert und strafrechtlich verfolgt wurde. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen stellten kein Korrektiv dar.
Wer eine Meinung hat, muss damit heute nicht hinterm Berg halten. Er kann Demos in Leipzig-Connewitz, montags in Dresden oder an der B 96 zwischen Zittau und Bautzen besuchen. Die Medien berichten darüber ohne Maulkorb.
Wirtschaft: Erst überall ABM, dann Wirtschafts-Wachstum
Die Währungsunion 1990 glich einer Schocktherapie für die DDR-Wirtschaft - zu gering war deren Produktivität, zu alt die Anlagen, zu unerfahren das Management. Schonungslos und teils dubios wickelte die Treuhand Betriebe samt Planwirtschaft ab.
Riesen wie der Dresdner VEB Pentacon (Kameras), das Kombinat Lautex (Oberlausitzer Textilwirtschaft) oder der Karl-Marx-Städter VEB Fritz-Heckert-Werk (Maschinenbau) starben.
In 20 Monaten verloren über drei Millionen Ossis ihre Jobs. 3713 Betriebe wurden geschlossen. Ohne staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wäre mancherorts jeder Zweite arbeitslos gewesen.
Dank Gründer- und Erfindergeist, Milliarden-Investitionen von Konzernen und Staats-Hilfen wächst die Ost-Wirtschaft seit zwei Jahrzehnten wieder.
Automobil- und Maschinenbau, Chipindustrie, Handwerk und Tourismus sind heute tragende Säulen der heimischen Wirtschaft. 2019 betrug das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 31.453 Euro (Platz 12 im Länderranking).
Sachsens DGB-Boss Markus Schlimbach (55) empört aber: "Wir sind das Bundesland mit der niedrigsten Tarifbindung. Die Löhne liegen weit unter Westniveau."
30 Jahre Einheit: Es ist nicht alles Gold ...
Ist der Osten auf der Überholspur angekommen? Beim Ausbau der Infrastruktur, Verkehrswege, Medizin und Forschungslandschaft wurde viel erreicht. Doch es ist längst nicht alles Gold, was da glänzt.
Verkehr: Von Rennpappen und Schlaglöchern
Verkehr in Ostdeutschland - das waren Tatra-Bahnen, Taigatrommeln (Diesellokomotiven vom Typ M62 aus Luhansk) und Trabis. Aber auch Diamant-Räder und Ikarus-Busse.
Die Wiedervereinigung brachte die große Verkehrswende. Die Rennpappen verschwanden, stattdessen fuhr man nun VW, Audi & Co. aus. Gebrauchtwagenhändler verdienten sich kurz nach der Wende goldene Nasen.
Inhaber von Straßenbau-Betrieben ebenso, denn abertausende Schlaglöcher mussten geflickt und neue Straßen, sowie Autobahnen gebaut werden. Der jährliche Fortschrittsbericht "Aufbau Ost" weist bis heute Millionen-Beträge aus, die für Verkehrswege ausgegeben werden.
Das sächsische Schienennetz - einst das dichteste Deutschlands - wurde zusammengestrichen. Viele Orte verloren durch Stilllegungen ihren Anschluss. Der Güter- und Nahverkehr setzt heute auf die Straße.
Der teure Ausbau der Binnenhäfen an der Elbe ist ein Zankapfel. Die Bilanzen der Flughäfen Dresden und Leipzig sind gemischt. Leipzigs Bedeutung wächst als Frachtdrehkreuz.
Infrastruktur: Nur jeder elfte DDR-Haushalt hatte Telefon
Nur jeder elfte Privathaushalt hatte 1989 in der DDR einen Telefonanschluss. Die Telekom behob den Mangel. Der Konzern stieg damit zum größten Einzelinvestor in den neuen Ländern auf.
Das digitale Zeitalter, das inzwischen angebrochen ist, macht weitere Investitionen nötig. Doch der gewünschte Breitbandausbau kommt nur schleppend voran. Besonders im ländlichen Raum wartet man sehnsüchtig auf schnelles Internet.
Der Anschluss fast aller Haushalte an Trink- und Abwasserversorgung war Kraftakt und vielerorts Krimi und Drama. So mancher Hauseigentümer zahlte Unsummen an Anschlussbeiträgen.
Noch heute sitzen Zweckverbände auf Schuldenbergen und arbeiten ineffizient, weil sie überdimensionierte Anlagen betreiben. Die Zeche blechen - wieder - die Verbraucher.
Strom war in Ostdeutschland bis dieser Tage tendenziell teurer als im Westen. Das lag vor allem an den nahezu flächendeckend höher angesetzten Netzentgelten (begründet in Nachwende-Investitionen und Überkapazitäten von Windstrom).
Per Beschluss hat die Bundesregierung dafür gesorgt, dass sich die Preise nun angleichen.
Medizin und Versorgung: Fachärztemangel, aber auch Spitzenniveau
Das DDR-Gesundheitssystem galt stets als eine der Vorzeige-Errungenschaften des Sozialismus. Die Poliklinik war ihr Symbol schlechthin.
Tatsächlich stand das System in den 1980er Jahren kurz vorm Kollaps. Das berichten Stasi-Akten. Es fehlte an moderner Medizin, Technik und Ärzten in Ambulanzen und Krankenhäusern.
In Zwickau beispielsweise mangelte es laut einer Akte des Ministeriums für Staatssicherheit 1984 an Allgemeinmedizinern, Internisten und HNO-Ärzten, im Kreis Werdau an Kinderärzten und Orthopäden.
Das Thema Fachärztemangel ist nach wie vor aktuell. Erst Anfang 2020 stellte der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen fest, dass es in mehreren Regionen ärztliche Unterversorgung gibt oder diese absehbar eintritt.
Das Niveau der medizinischen Versorgung ist heute aber spitze im internationalen Vergleich. Ein Ost-West-Gefälle besteht nicht.
2019 belegte das Dresdner Universitätsklinikum Platz 2 im Ranking der besten Kliniken Deutschlands, die Uniklinik Leipzig erreichte Platz 13.
Forschung und Wissenschaft: Das Land der Erfinder
Der Erfindergeist der Sachsen ist sprichwörtlich. Hier erfand man das europäische Hartporzellan, die erste Rollenoffsetdruckmaschine, die Linkslenkung im Automobil und den Kaffeefilter.
Zu DDR-Zeiten operierten Wissenschaft und Forschung zwischen Marxismus-Leninismus und Mangel. Sie hatten einen starken Praxisbezug und folgten den Leitplanken der Planwirtschaft.
Trotzdem schaffte es zum Beispiel Manfred von Ardenne in Dresden das mit knapp 500 Mitarbeitern bedeutendste private Forschungsinstitut im gesamten Ostblock aufzubauen.
Heute besitzt Sachsen etwa 50 außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Ein breites Themenfeld wird dort beackert: Mikro- und Nanoelektronik, Materialwissenschaften, Produktionstechnologien, Energie, Umwelt- und Naturwissenschaften, Biotechnologie, Medizin und, und, und.
"Diese Vielfalt ist unter den ostdeutschen Ländern einmalig", behauptet die Wirtschaftsförderung Sachsen.
Sport und Kultur: Der Medaillenschmiede folgte der Marathon
Mit Medaillen-Gewinnen bei Olympischen Spielen sowie Auftritten von Künstlern und Ensembles von Weltrang polierte die kleine DDR ihr Ansehen auf. Sächsische Athleten wie Ingrid Krämer-Gulbin, Jens Weißflog oder Katarina Witt schrieben Geschichte.
Platten von Peter Schreier oder der Staatskapelle Dresden verkauften sich im NSW (Nicht-Sozialistisches Wirtschaftsgebiet) auch sehr gut. Die staatliche Lenkung des Sports endete mit der Wiedervereinigung.
Ein Marathon: der Aufbau neuer Strukturen für den Spitzensport mit starken Vereinen, Leistungszentren und Olympia-Stützpunkten. Ein Wettrennen: um Fördermittel, Talente, Trainer und Sponsoren. Um so höher sind die Erfolge von Jens Fiedler, Christina Schwanitz, Francesco Friedrich oder Eric Frenzel nach 1990 zu schätzen.
Die Kultur blüht im Freistaat. Musentempel wie die Semperoper, das Leipziger Gewandhaus und Museen wie die Staatlichen Kunstsammlungen, die Kunstsammlungen Chemnitz mit dem Museum Gunzenhauser locken Stars und Touristen aus allen Teilen der Erde.
Titelfoto: dpa/picture-alliance, picture-alliance, imago/Frank Sorge, imago/Sven Simon, ddp (Montage)