Abschied vom Chefdirigenten der Staatskapelle: Thielemann wird Ehrendirigent
Dresden - Es hätte sentimental werden können. Wurde es nicht, und das Hauptverdienst daran hatte der Geehrte selbst, Christian Thielemann (65), Chefdirigent der Staatskapelle, der am vergangenen Sonntag nach fulminanter Aufführung von Mahlers 8. Symphonie im 12. und letzten Symphoniekonzert der Saison hinkenden Fußes (war verstaucht) feierlich verabschiedet wurde.
Das Konzert war vorüber, der Applaus für Orchester, Chöre, Solisten und Kapellmeister erreichte Ovationsstärke, als Ministerpräsident Michael Kretschmer (49, CDU) zur Verabschiedung Thielemanns auf die Bühne trat.
Kurz zuvor hatte ein Besucher aus dem Parkett, wohl ein Thielemann-Verehrer, eine wüste Beleidigung in Richtung Bühne geschickt, wahrscheinlich gerichtet an den Ministerpräsidenten, der für das Aus Thielemanns bei der Staatskapelle verantwortlich ist. Unglücklicherweise traf der Fluch den Intendanten des Hauses, Peter Theiler, bevor dieser den Auftritt des MP ankündigte.
Es war der einzige Misston an dieser Stelle. Dabei ließ Thielemann es sich an diesem Abend, der sein besonderer Abend war, nicht nehmen, vor ausverkauftem Haus und Auge in Auge mit dem Ministerpräsidenten, süffisant darauf hinzuweisen, dass "wir" - gemeint waren er und Intendant Theiler, der ebenfalls zum Saisonende gehen muss - bei der langfristigen Saisonplanung "ja nicht gewusst haben, dass Schluss sein wird", das heißt, beider Verträge nicht verlängert würden. Ein kaum mehr versteckter Hinweis auf einen nicht nur für ihn befremdlichen Vorgang.
Drei Jahre ist es her, dass die Staatsregierung diese in den Augen vieler Musikliebhaber fragwürdige Entscheidung anscheinend wie aus heiterem Himmel und ohne Erläuterung verkündete. "Er hat keine Gründe genannt, er hat es mir mitgeteilt. Das war alles", so Thielemann vergangene Woche im TAG24-Interview über den Anruf Kretschmers, der das Ende der Zusammenarbeit besiegelte. Ob Signale aus dem Orchester die Entscheidung beeinflusst hatten, ist bis heute unklar.
Das Unverständnis über diese Personalie wirkt bei vielen Beobachtern bis heute nach und mag auch den Ärger des ungeschickten Zwischenrufers erklären.
Thielemann schwärmte von den zurückliegenden vierzehn Jahren
Damit seine Bemerkung nicht zu weiteren Unmutsäußerungen im Publikum führte, wiegelte Thielemann, mit einem Ansatz von Berliner Kodderschnauze, ab: "Wir werden heute nicht kontrovers!" Versöhnlichkeit war Stand der mentalen Dinge.
Thielemann schwärmte von den zurückliegenden vierzehn Jahren mit der Staatskapelle, hob seine teils sächsische Abstammung in der Genealogie seiner Familie hervor, auch der Ministerpräsident fand zum Abschied passende Worte, wobei selbst sein an den Dirigenten gerichtetes "Auf Wiedersehen" nicht so zynisch klang, wie es die Wirklichkeit der Verhältnisse nahelegt.
Kretschmers Abschiedsgeschenk an Thielemann: ein aus Meissener Porzellan gefertigter Taktstock.
Herzlicher fiel der öffentlich zelebrierte Abschied vom Orchester aus. Immer wieder umarmte Thielemann Konzertmeister Matthias Wollong, in Vertretung des Orchesters wie in persönlicher Sympathie, und nicht allein Wollong unter den Musikern und Musikerinnen hatte feuchte Augen ob des Abschieds. "Ihr seid einzigartig in Eurem Klang", rühmte Thielemann die Staatskapelle.
Schließlich verlieh das Orchester ihrem scheidenden Chefdirigenten die höchste Ehrung, die sie zu vergeben hat: Sie ernannte ihn in Person von Orchestervorstand Friedwart Christian Dittmann zum Ehrendirigenten. In der Reihe der Ehrendirigenten ist Thielemann nach Sir Colin Davis (1927-2013) und Herbert Blomstedt (wird am Donnerstag 97 Jahre alt) der dritte. Mit der Ehrung verbunden ist die Bitte um Rückkehr Thielemanns als Gastdirigent.
Bis dieser Wunsch Wirklichkeit wird, kann es dauern. Er habe terminlich frühestens ab 2029 wieder Zeit, hatte Thielemann in der TAG24 erklärt. Zur neuen Spielzeit tritt er seine neue Position als Generalmusikdirektor der Staatsoper Berlin an.
Thielemanns Abschiedsvorstellung mit 335 Mitwirkenden
Musikalisch hatten Thielemann und die "Kapelle" in den Stunden zuvor wieder bewiesen, was die Qualität ihrer Zusammenarbeit ausmacht.
Mahlers Achte ist Symphonie und Oratorium der Superlative, sie beschäftigt drei Chöre (hier: Sächsischer Staatsopernchor, Chor des Bayerischen Rundfunks, Kinderchor der Semperoper), ein zusätzliches Orchester (Gustav Mahler Jugendorchester) sowie acht Solistinnen und Solisten (Camilla Nylund, Ricarda Merbeth, Regula Mühlemann, Štěpánka Pučálková, Christa Mayer, David Butt Philip, Michael Volle, Georg Zeppenfeld).
Die Uraufführung 1910 in München zählte 1030 Mitwirkende. Thielemanns Abschiedsvorstellung kam mit 335 Mitwirkenden aus.
Das zweisätzige Werk ruht auf dem Pfingsthymnus "Veni, creator spiritus" und dem Schlussteil von Goethes "Faust II". Der Musikphilosoph Theodor W. Adorno hatte angesichts des ausladenden Gestus des Stücks über einen "Rückfall ins grandios Dekorative" gelästert. Diese Gefahr ist bei jeder Aufführung gegeben, doch wurde sie hier von den Interpreten, voran Dirigent Thielemann, gebannt.
In keinem Moment wirkte die Interpretation überladen, besonders der abschließende "Chorus mysticus" ("Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis ...") ging in der Intensität seines Pianissimos tief unter die Haut. Zwei Aufführungen, am vergangenen Montag und am heutigen Dienstag sollten folgen.
Titelfoto: Matthias Creutziger