OB Schulze im TAG24-Interview: "Ich bin überzeugt, dass wir uns nicht blamieren werden"
Chemnitz - Seit zwei Jahren ist Sven Schulze (50, SPD) als Oberbürgermeister von Chemnitz vereidigt. Zeit für eine Zwischenbilanz und einen kritischen Ausblick: Im Interview mit den TAG24-Redakteuren Mario Adolphsen (43) und Torsten Hilscher (55) nimmt der OB ausführlich Stellung zur finanziellen Situation der Kommune, den Vorbereitungen zur Kulturhauptstadt sowie zu den Krisen-Themen Asyl, CFC und Gießerei-Brand.
TAG24: Herr Oberbürgermeister, der Großbrand in der Gienanth-Gießerei beschäftigt viele Chemnitzer. Es kam Kritik auf, die Stadt hätte schneller reagieren müssen.
Sven Schulze: "Es ist ja nicht so, dass es keine Informationen gab. Wir waren vor Ort mit der Pressestelle, die NINA-WarnApp ging schnell raus. Sicherlich hätte man auf den eigenen Kanälen gleich was machen können, dann hat es ja auch funktioniert."
TAG24: Aber das hat auf Social Media erst zwei, drei Stunden später funktioniert.
Sven Schulze: "Das stimmt wohl. Aber die Kerninformationen, NINA, Feuerwehr und Informationen an die Medien, das hat geklappt. Aber ja, niemand ist perfekt."
TAG24: Thema Finanzen: Droht Chemnitz wie Dresden eine Haushaltssperre?
Sven Schulze: "Aktuell warten wir noch auf die Genehmigung des Doppelhaushalts für 2023/24 durch die Landesdirektion. Ich erwarte das in den nächsten ein, zwei Wochen. Vor dem Hintergrund der Belastungen, die seither dazugekommen sind, Stichwort Tarifabschluss im öffentlichen Dienst, der allein 18 Millionen Euro zusätzlich für 2024 ausmacht, erwarte ich aber Auflagen."
Sven Schulze: "Ein grenzenloses 'Weiter so' wird es nicht geben"
TAG24: Dieser neue Haushalt ist stark überzeichnet. Eine Zustimmung der Landesdirektion ist nicht gewiss, oder?
Sven Schulze: "Uns wurde die Zustimmung signalisiert."
TAG24: Die Stadt verschuldet sich für diesen Haushalt erneut stark, zugleich ist das Sparschwein bald leer.
Sven Schulze: "Dadurch, dass wir mittelfristig unsere Rücklagen aufbrauchen, wird man uns vielleicht gewisse Auflagen und Hinweise reinschreiben. Ein grenzenloses 'Weiter so' wird es danach nicht geben. Ohne eine strukturelle Anhebung der Finanzausstattung der Kommunen durch das Land kommt Chemnitz mittelfristig in eine Mangelverwaltung."
TAG24: Auch dem Rathaus fehlt Personal. Nun kommen Antragswellen zu Wohngeld und Bürgergeld. Schaffen Sie das?
Sven Schulze: "Wir sind im Moment in der Lage, gerade beim Wohngeld, die Anträge zu bewilligen. Aber jede neue Aufgabe, die wir von Bund oder Land bekommen, ohne dass dazu Geld bereitgestellt wird, ist schwierig. Nicht einmal das jüngst vereinbarte zusätzliche Landes-Geld für Ukraineflüchtlinge ist auskömmlich."
TAG24: Wir hören da eine Forderung an Bund und Land?
Sven Schulze: "In jedem Fall. Aktuell versuchen wir, Personal umzuschichten – aber das fehlt dann an anderer Stelle."
Chemnitzer OB im Interview: "Müssen uns dem Thema stellen"
TAG24: Dabei sucht die Stadt eh schon neue Mitarbeiter.
Sven Schulze: "Es sind immer 200 bis 300 Stellen frei. Doch es wird immer schwieriger, geeignete Bewerber zu bekommen. Dabei sind unsere Stellen nicht schlecht bezahlt!"
TAG24: An der kurzfristigen Schließung von Servicestellen und ähnlichem ändert sich in absehbarer Zeit also erst mal nichts?
Sven Schulze: "Wir versuchen dort, wo kurzfristige Verbesserungen machbar sind, sie umzusetzen. Die Digitalisierung wird hoffentlich eine gewisse Erleichterung bringen."
TAG24: Heißt das auch: Einsatz von künstlicher Intelligenz, KI?
Sven Schulze: "Wir müssen uns dem Thema stellen. Was das für unsere Verwaltungsprozesse im Konkreten bedeutet, das müssen wir noch sehen. Wir werden gar keine andere Wahl haben."
TAG24: Viele Kommunen beklagen das Ende ihrer Belastbarkeit beim Thema Asyl. Wie ist die Lage in Chemnitz?
Sven Schulze: "Wir bekommen schon Mittel von Bund und Land, um die finanziellen Belastungen zu einem hohen Prozentsatz zu decken. Ich plädiere aber beim Thema Belastungen, zu sehen, dass wir auch in Sachen Unterbringung und Integrationsleistungen gefordert sind. Es ist auch eine Frage von Schul- und Kitaplätzen. Es braucht Erzieher. Für die Akzeptanz in der Bevölkerung ist es wichtig, dass die damit einhergehenden Belastungen für die Kommunen nicht zu einer Belastung des 'normalen‘ gesellschaftlichen und städtischen Lebens gehen. Deshalb ist es wichtig, dass hierzu vom Bund neue Signale und neue Unterstützung kommen."
TAG24: Könnte, mit Blick auf den Wohnungsmarkt, Chemnitz nicht sogar noch mehr Flüchtlinge aufnehmen?
Sven Schulze: "Beim Thema Asyl ist es ja nicht mit der Unterbringung getan. Es geht auch um Integration, wie sie sich in die Gesellschaft reinfinden. Sprache ist ein wichtiger Schlüssel. Arbeit. Wir erfüllen die Quoten, bei ukrainischen Flüchtlingen haben wir sogar eine Übererfüllung. Aber für mehr sehe ich da jetzt keinen Spielraum."
Sven Schulze zum "Sicherheitsproblem in der Innenstadt"
TAG24: Immer wieder steht die City im Fokus, wenn es um Gewalt und Krawall geht. Es gibt, gerade Am Wall, verstärkte Streifen. Trotzdem haben viele Bürger das Gefühl, dass das nicht reicht.
Sven Schulze: "Ich verschließe davor nicht die Augen: Wir haben ein Sicherheitsproblem in der Innenstadt. Mir sind die Vorfälle bekannt. Zur Wahrheit gehört, dass sie zum überwiegenden Teil von jungen Männern mit Migrationshintergrund ausgehen. Wir versuchen gemeinsam mit der Polizei und den Händlern vor Ort, Maßnahmen zu ergreifen. Durch stärkere Präsenz. Zwar ist - statistisch betrachtet - die Fallzahl dort gar nicht so überdurchschnittlich. Aber es ist richtig: Das Sicherheitsgefühl dort ist nicht gut. Da dürfen wir nicht lockerlassen. Ich bin auch nicht zufrieden mit der Situation, so wie sie jetzt ist."
TAG24: Etwas Lockeres: Sie und der Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt sind namensgleich. Wird da schon mal fehlgeleitete Post ausgetauscht?
Sven Schulze (lacht): "Nein, aber ich habe mal aus Versehen von unserem Ministerpräsidenten Michael Kretschmer eine SMS an ihn bekommen. Die war harmlos."
TAG24: Was halten Sie von Michael Kretschmer?
Sven Schulze: "Ich finde, dass der MP eine sehr authentische und auch zugewandte Art der Politik hat. Er ist für mich ein guter und verlässlicher Gesprächspartner, gerade bei den Themen Kulturhauptstadt und zum Beispiel Wasserstoff. Er ist auch jemand, der auch ein gewisses Herz für Chemnitz hat."
TAG24: Manche meinen, er hat einen zu starken Ostsachsen-Blick.
Sven Schulze: "Klar, er hat schon einen Blick für die Region, aus der er kommt. Und sicherlich wünschte ich mir manchmal bei Großansiedlungen, die der Freistaat befördert, auch bei Ansiedlungen von Behörden, dass man da nicht nur Dresden und Leipzig in den Blick nimmt."
"Ab Sommer starten die ersten Läden"
TAG24: Es sind noch anderthalb Jahre bis zur Kulturhauptstadt. Täuscht der Eindruck, dass die Vorbereitungen stagnieren?
Sven Schulze: "Wir sind in der Stadtgesellschaft von einer großen Erwartungshaltung und von einer gewissen Ungeduld geprägt. Manchmal frage ich mich, ob die Kulturhauptstadt all die Erwartungen, die in sie gelegt werden, auch erfüllen kann. Ich bin überzeugt, dass sie für Chemnitz ein Erfolg wird - und dass wir uns nicht blamieren."
TAG24: Von vielen geplanten Großprojekten ist nichts zu sehen: Kreativachse, Garagencampus ...
Sven Schulze: "Gerade die Projekte, die mit Bauen zu tun haben, dauern etwas länger als gedacht. Da haben uns Corona und andere Dinge nicht gerade in die Hände gespielt. Ich bin trotzdem überzeugt, dass wir von den beiden Dingen bald Sichtbares haben. Gleichwohl werden wir nicht überall fertig werden, was im Übrigen auch nicht Anspruch der Kulturhauptstadt ist."
TAG24: Bei der Kreativachse gibt es noch keinen einzigen Laden, kein Atelier.
Sven Schulze: "Da steckt der Teufel im Detail. Es musste erst vieles mit den Eigentümern der entsprechenden Immobilien geklärt werden: was die niederschwellige Sanierung anbelangt, was die Energieanschlüsse angeht. Nun werden wir ab Sommer mit den ersten Läden starten können."
TAG24: Wo denn?
Sven Schulze: "Auf der Zietenstraße kommt bald Gastronomie, auf dem Brühl neuer Handel."
"Es wird Schwerpunktwochenende geben"
TAG24: Hätte man diese Fragen nicht vorher klären können?
Sven Schulze: "Gute Frage. Wir haben uns mit einem Konzept beworben. Darin war natürlich noch nicht alles bis zum Schluss geklärt."
TAG24: Aber mit Verlaub: Ist das nicht auch Selbstbetrug?
Sven Schulze: "Wir haben uns mit Ideen und Visionen beworben, sonst wird alles sehr technisch."
TAG24: … dass man bei riesigen Apfelbaum-Pflanzungen gewisse biologische Dinge beachten muss, sollte schon klar sein.
Sven Schulze: "Dass im Laufe des Prozesses angepasst werden muss, ist auch nicht so selten."
TAG24: Hand aufs Herz: Manche Projekte werden gar nicht umgesetzt werden können.
Sven Schulze: "Ja. Aber das ist bei Kulturhauptstädten nicht neu. Die EU-Kommission hat uns gerade einem Monitoring unterzogen. Ich erwarte für Ende Juni den Bericht, der auch Hinweise enthalten wird. Auch wenn das mir keine schlaflosen Nächte bereitet. Aber ich sehe schon Verbesserungspotenzial, was das Thema Kommunikation betrifft, was das Thema Beteiligung betrifft. Die Balance zwischen Internationalität und Mitnahme der Leute vor Ort ist noch nicht so da."
TAG24: Das "Kosmos"-Festival fällt dieses Jahr aus. Findet es 2025 statt?
Sven Schulze: "Das ist ein zentrales Projekt, das steht nicht zur Disposition. Man wird sehen, ob es unter der Konstruktion CWE weitergeführt wird oder von jemand anderem."
TAG24: Und wo sollen die Gäste alle schlafen?
Sven Schulze: "Es wird 2025 nicht an 365 Tagen High Life geben. Es wird Schwerpunktwochenende geben. Aber wir denken auch regional, wir werden das Umland miteinbeziehen. An wenigen Tagen werden wir wohl auch die Kapazitäten von Dresden und Leipzig in Anspruch nehmen müssen, das will ich nicht ausschließen."
"Ein Abgesang beim CFC täte mir sehr weh"
TAG24: Sie sind Mitglied beim CFC. Dort läuft es gerade rumpelig …
Sven Schulze: "Ich verfolge das als OB und als Fan mit einem gewissen Erstaunen. Es tut mir ein bisschen weh, weil ich der Überzeugung bin, dass Fußball zur Stadt Chemnitz gehört. Und dass der Verein nicht auf Dauer in die vierte Liga gehört. Fakt ist aber auch, dass wirtschaftliche Rahmenbedingungen auch zu einem Profiverein gehören. Aus den aktuellen Vorgängen ergeben sich etliche Fragen. Ich darf daran erinnern, dass sich die Stadt finanziell stark engagiert. Und jetzt sind die Gremien und die, die dort ihr Geld reingesteckt haben, gefordert, ein neues Konzept aufzubauen. Ein Abgesang jetzt, wenn der käme, täte mir sehr weh. Aber die Stadt sehe ich im Moment nicht in irgendeiner Verpflichtung."
TAG24: Wo ist die Grenze für das finanzielle Engagement der Stadt?
Sven Schulze: "Man muss immer schauen, wen man mit einer solchen Entscheidung trifft. Der CFC leistet eine sehr gute Nachwuchsarbeit. Das würde ich nicht infrage stellen. Aber klar ist: Wir erwarten, dass mit der städtischen Unterstützung vernünftig und professionell umgegangen wird und dass sie vor allem dem Vereinszweck zugutekommt und niemand anderem. Wenn das nicht so sein sollte, muss man sie infrage stellen."
"Social Media ist wichtiges Kommunikationsmittel"
TAG24: Auf Social Media sind Sie recht sparsam unterwegs.
Sven Schulze: "Och, das ist eine Frage der Perspektive. Ich habe einen Facebook-Kanal, den ich pflege. Ich habe mich bewusst gegen Twitter entschieden. Beim Thema Instagram sind wir gerade in der Diskussion. Vielleicht findet man mich in absehbarer Zeit dort. Grundsätzlich halte ich Social Media für ein wichtiges Kommunikationsmittel. Auch, weil man die Bürger gut erreicht."
TAG24: Wie privat wird der Instagram-Kanal?
Sven Schulze: "Jeder Politiker, jeder OB hat das Recht auf eine Privatsphäre. Er ist ja nicht 24 Stunden, sieben Tage die Woche im Büro. Er hat ein Hobby, er geht wandern. Das kann man in einem gewissen Maß zeigen. Kinder, Homestory, Strandfoto wird es nicht geben."
TAG24: Als Privatmann ist es in der Öffentlichkeit sicher nicht einfach.
Sven Schulze: "Aus Sicht der Chemnitzer bin ich 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche der OB. Selbst wenn ich irgendwo privat bin, sehen sie in mir den OB. Das kann manchmal schön sein. Das kann aber auch anstrengend sein. Deshalb braucht jeder Mensch, auch ich, Räume, wo ich wirklich privat sein kann. Einen geschützten Raum. Das bedeutet auch die eine oder andere bewusste Lücke im Terminkalender am Wochenende. Das braucht man. Das Durchatmen, den Kopf entleeren. Ich werde ja als OB nicht alle Probleme der Stadt lösen können, auch wenn ich mich sehr anstrenge. Das ist wichtig, dass man sich das immer wieder sagt."
Herr Schulze, vielen Dank für das Gespräch!
Titelfoto: Uwe Meinhold