NSU-Terror: Filmteam auf Spurensuche im Chemnitzer Heckertgebiet
Chemnitz - Zwei Jahre lang lebte das NSU-Trio Uwe Mundlos († 38), Beate Zschäpe (46) und Uwe Böhnhardt († 34) in Chemnitz. Das Heckertgebiet spielte Ende der 1990er eine zentrale Rolle. Jugendliche der Chemnitzer Filmwerkstatt haben sich auf die Spuren des NSU im "Heckert" begeben und Wohn- und Tatorte filmisch rekonstruiert.
Über Monate haben die Jugendlichen zum Thema recherchiert. Mit der Kamera haben sie das Wohnumfeld eingefangen, unter anderem einen Überfall nachgestellt und im Schnitt Texte eingesprochen.
"Diese stammen zum Teil aus Protokollen der Gerichtsverhandlungen", sagt Medienpädagoge Sebastian Steger (39). Herausgekommen ist eine digitale Spurensuche mit vier Stationen, die jeder mit der App "Actionbound" ähnlich einer Schnitzeljagd ablaufen kann.
Während des Entstehungsprozesses wurde den Machern schnell klar, wie leicht es dem Trio gefallen ist, im Heckertgebiet Fuß zu fassen.
"Ich denke, das Projekt zeigt durch die vier Drehorte gut, wie eng Lebens- und Wirkungspunkte des NSU beieinanderliegen. Das hat auch bei den Jugendlichen einen Eindruck hinterlassen", erzählt Steger.
Friedrich-Viertel-Straße
Hier fand das damals flüchtige und per Haftbefehl gesuchte NSU-Trio 1998 Unterschlupf. Die Nummer 85 galt im "Heckert" als regelrechter Neonazi-Hotspot. Jugendcliquen nannten sich "Heckert-SS". Der NSU fand im Kiez das perfekte Netzwerk aus Unterstützern und Verbündeten. Anderthalb Jahre später lebten die Terroristen in weiteren Wohnungen in der Limbacher Straße 96 und Altchemnitzer Straße 12.
Jugendclub "Piccolo"
Ein ehemaliger Jugendclubleiter bezeichnete den Club in der Johannes-Dick-Straße 5 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss als Treffpunkt der rechten Szene. Zum harten Kern gehörten rund zehn Neonazis.
Hooligan-Gruppen sollen hier ungehindert Jugendliche rekrutiert und Andersdenkende mit Gewalt aus dem Weg geräumt haben. Auch der NSU soll hier zwischen 1998 und 2000 ein und aus gegangen sein. 2007 wurde der Club geschlossen. Heute nutzt ein Tierschutzverein die Räume.
Wolgograder Allee
In der Nummer 76 wohnten Mundlos, Zschäpe und Böhnhardt von April 1999 bis August 2000 im Erdgeschoss. Komplize André E. hatte die Wohnung angemietet.
Eine Anwohnerin berichtete von jungen Leuten, die eingezogen waren. Das Trio blieb unauffällig und lebte nahezu friedlich im Wohnblock, weshalb niemand ahnen konnte, welche Pläne hinter der Wohnungstür geschmiedet worden sind.
Postfiliale
Am 30. November 2000 überfielen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt mit Fahrrädern die Postfiliale in der Johannes-Dick-Straße 4. Die Angestellten wurden mit Faustfeuerwaffen bedroht. Durch die Ortskenntnisse, das nahe Waldstück und die hohen Plattenbauten gelang eine schnelle Flucht. Beute: 39.000 DM.
Insgesamt überfiel der NSU bundesweit 15 Sparkassen sowie Post- und Supermarktfilialen, um seinen Lebensunterhalt sowie Waffen zu finanzieren.
Stetige Aufklärung
Kommentar von Stefan Graf
Neuneinhalb Jahre ist das Bekanntwerden des NSU her, drei Jahre die Verurteilung von Beate Zschäpe als Mittäterin. Dass das Trio jahrelang untertauchen konnte, war kein Glück oder Zufall. Im "Heckert" fanden die Terroristen den idealen Nährboden.
In den riesigen Wohnblöcken tummelten sich in den 1990ern zahlreiche Rechte. Viele von ihnen stammten aus sozial schwachen Verhältnissen. Ein Nazi-Kiez war drauf und dran, sich zu verselbstständigen. Wer Fragen stellte, wurde gewaltsam ausgegrenzt. Dieser geschlossene Kreis von Gleichgesinnten hat es ermöglicht, dass Leute wie Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe untertauchen konnten.
Der NSU wirkt bis heute nach. Das hat der Spätsommer 2018 gezeigt. Auch hier war es ein rechtes Netzwerk, das binnen weniger Stunden mobilisieren konnte und ebenso schnell bereit war, Grenzen zu überschreiten.
Wenige Wochen später gründete sich "Revolution Chemnitz", eine Art NSU 2.0. In Chats wurde rechtsterroristisches Gedankengut ausgetauscht. Ein Angriff auf Flüchtlinge am Schlossteich zeigte, dass es nicht bei Gedankenspielen bleiben sollte.
Rechtsterrorismus hat keine Halbwertszeit, er ist allgegenwärtig und kann sich jederzeit wiederholen. Deswegen braucht es Projekte und insbesondere Jugendaufklärung, die sich dem Thema immer wieder aufs Neue entgegenstellen.
Titelfoto: Sven Gleisberg, Maik Börner