Heute vor 80 Jahren: Chemnitzer erinnern sich an die Bombennacht 1945
Chemnitz - In der Nacht des 5. März 1945 erlebte Chemnitz die schlimmsten Stunden seiner Geschichte - ein Datum, das sich in die Seele der Stadt eingebrannt hat. Als der Himmel sich am Abend verdunkelte, ahnte niemand, dass wenig später nichts mehr so sein würde wie zuvor.

Es war kurz nach 21.30 Uhr, als 700 britische und kanadische Bomber ihre tödliche Last über der Stadt abwarfen. Innerhalb weniger Stunden wurde die Innenstadt in ein loderndes Inferno verwandelt. Feuerstürme tobten durch die Straßen, Gebäude stürzten ein, Menschen rannten um ihr Leben. Mehr als 2000 starben allein in dieser Nacht.
Heute, genau 80 Jahre später, erinnern Chemnitzer an diese Tragödie und setzen ein Zeichen für den Frieden. Auf dem Neumarkt wird 11 Uhr der Friedenstag eröffnet, im Rathaus gibt es ab 11.30 Uhr Zeitzeugenfilme zu sehen.
18 Uhr beginnt die Hauptveranstaltung "Frieden stiften durch Versöhnung" auf dem Neumarkt. Den Abschluss bildet ein Gedenk- und Gebetsgeläut Chemnitzer Kirchen.
Zeitzeugen, die von den Schrecken jener Nacht berichten können, sind rar geworden. Im ASB-Pflegeheim Rembrandtstraße und im Seniorenpflegeheim Matthias-Claudius-Haus hat TAG24-Reporterin Lena Plischke (26) mit einigen von ihnen gesprochen. So haben sie die Bombennacht überstanden. Mit den Erinnerungen müssen sie bis heute leben.


"Mädel, Gott sei Dank, Du bist wieder zu Hause"

Annemarie Müller (96) lebte mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in Einsiedel. Als die Sirenen heulten, war sie noch in Chemnitz. Der Zug zurück kam nicht, also lief sie zu Fuß nach Hause - kilometerweit, durch eine Stadt, die bereits brannte.
"Ich erinnere mich noch genau: Schnee und Regen peitschten mir ins Gesicht. Als ich endlich zu Hause ankam, fiel mir meine Mutter um den Hals und rief: 'Mädel, Gott sei Dank, Du bist wieder zu Hause!'"
Viel Zeit zum Durchatmen blieb nicht. Die Familie floh in den Luftschutzkeller einer Strumpffabrik. Dann kam der Feuersturm.
"Ringsherum brannte es. Die Kirche loderte, der Himmel war rot. Und dann hieß es plötzlich: 'Wir müssen raus!' Im Kesselhaus lag eine Bombe."
"Wir lagen im Keller auf den Kartoffeln"

Gudrun Jander (93) wuchs in Markersdorf auf. Sie war 14 Jahre alt, als der Feuersturm über die Stadt hereinbrach. Die Familie flüchtete in den Keller und verbrachte die Nacht zwischen Kartoffelsäcken.
"Wir trauten uns nicht heraus, es krachte und schepperte überall. Eine Bombe ging ganz in der Nähe nieder. Das hat unheimlich geknallt."
Am nächsten Morgen wagten sie sich nach draußen. "Ich bin die Annaberger Straße entlanggegangen und habe gesehen, wie die ganzen Leute mit Handwagen und Kindern und allem, was sie hatten, Richtung Land gelaufen sind."
Gudruns Familie überlebte, aber ihre Welt war eine andere geworden.
"Die ganze Stadt leuchtete rot"

Joachim Frey (93) schlief tief und fest, als ihn seine Mutter aus dem Schlaf riss. Draußen heulten die Sirenen.
"Ich erinnere mich, dass ich Hunger hatte. Das Brot war damals sehr knapp. Aber meine Mutter hat dann auf ihres verzichtet und meinte zu mir: 'Hier, eine Alarmschnitte.'"
Zusammen harrten sie im Keller aus, als es plötzlich einen lauten Knall gab. "Eine Bombe ist in die Glösaer Kirche eingeschlagen, durch die Druckwellen haben alle Wände gewackelt. Unser Haus blieb zum Glück verschont."
Als der Angriff vorbei war, verließen sie den Keller. "Wir haben gesehen, wie die ganze Stadt rot brannte. Es hat fürchterlich gerochen."

"Wenn, dann sollte uns allen was passieren"

Renate Weinhold (89) war gerade 8 Jahre alt, als sich ihre Welt auf den Kopf stellte. "Meine Mama hat meine Geschwister und mich sehr behütet. Wir waren immer zusammen. Wenn, dann sollte uns gemeinsam was passieren, damit keine ohne die anderen sein muss."
So war es auch am Abend des 5. März. Zusammen harrte sie mit ihren Geschwistern und ihrer Mutter im Keller aus und fürchtete sich vor dem "lauten Scheppern". Dann, als es still wurde, sagte ihre Mutter etwas, das sie nie vergessen wird: "Holt die Kinder, das müssen sie sehen!"
Zu sehen war das Feuerinferno von Chemnitz, was sich bis heute in ihr Gedächtnis gebrannt hat.
Erinnerung bewahren

Kommentar von Lena Plischke
Die Bombennacht von Chemnitz ist 80 Jahre her, und doch darf sie niemals in Vergessenheit geraten. Die Schreie, die Feuerstürme, der alles verschlingende rote Himmel - all das ist für die wenigen Zeitzeugen, die noch berichten können, auch heute noch präsent. Ihre Erinnerungen sind nicht nur Geschichte, sondern eine Mahnung an uns alle.
Auch ich habe oft mit meinen Großeltern über den Krieg und die Zeit danach gesprochen. Sie selbst waren damals erst zwei Jahre alt. Meine Oma erzählte mir einmal lachend, dass sie während des Bombenangriffs in Windeln stiften gegangen war und meine Uroma sie panisch gesucht hatte.
Ein Moment, der im Chaos des Krieges fast komisch wirkt, aber zeigt, dass hinter jeder dieser Erzählungen echte Menschen, echte Familien stehen. Menschen, die ums Überleben kämpften, die alles verloren haben, außer ihrer Erinnerung.
Wir müssen diese Erinnerungen wachhalten. Nicht nur für die Zeitzeugen, sondern für uns selbst, für unsere Kinder und für unsere Liebsten. Denn Frieden beginnt im Kleinen, in den Gesprächen mit unseren Großeltern, in unserem Verständnis für ihre Geschichte und in unserer Verantwortung, daraus zu lernen.
Die Schrecken von damals dürfen sich nie wiederholen, weder hier noch anderswo auf der Welt.
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