DDR-DJ über Partys in Karl-Marx-Stadt: "Man kann sich nicht vorstellen, was damals los war"
Chemnitz - Nach dem langen Lockdown freuen sich Chemnitzer Jugendliche im Moment schon über einen normalen Kneipen-Besuch. Kaum einer von ihnen weiß noch, wie bunt und wild die Jugendlichen der Wendezeit feierten. Damals gab es viele Orte in der Stadt, die eine ganze Generation bis heute prägten - und von denen heute fast keiner mehr da ist.
In den 1980ern boten Jugendclubs ausgelassene Tanzabende, in den frühen 90ern entstand eine riesige HipHop- und Techno-Szene. TAG24 hat sich auf Spurensuche begeben und präsentiert in einer zwölfteiligen Serie ab Montag täglich die wichtigsten Locations der Wendezeit - darunter legendäre Jugendclubs wie der "Würfel", das "Kasch" und das "FZ".
Zum Auftakt lädt "Schallplattenunterhalter Emil" zum musikalischen Streifzug durch Karl-Marx-Stadt und Chemnitz.
Eins steht fest: Die Chemnitzer Jugendlichen der Wendezeit waren keine Stubenhocker. "Man kann sich nicht mehr vorstellen, was damals am Wochenende los war", sagt Peer Ehmke (58), der in den 1980ern und 90ern als DJ durch die Stadt tourte.
"Die Leute sind tanzen gegangen - denn es gab nichts anderes." Beliebte Jugendclubs wie der "Würfel" im Heckert und das "Kasch" im Flemminggebiet waren heillos überlaufen.
"Wenn es um 19 Uhr losging, hat man sich um 16.30 Uhr angestellt", sagt Peer Ehmke. Die meisten der Jugendclubs hatten eine normierte Bungalow-Bauform. Dort hätten offiziell 60 Personen reingepasst - in Wirklichkeit seien oft an die 200 drin gewesen. "Es war sehr eng, sehr familiär."
Staatliche Regelungen für DDR-Clubs: 60 Prozent Ost-Musik, 40 Prozent West-Musik
Peer Ehmke - heute stellvertretender Leiter des Schloßbergmuseums - bekam 1981 die "staatliche Spielerlaubnis", um fortan als "Schallplattenunterhalter" Musik auflegen zu dürfen. Zu Hause nahm er Soul- und Funk-Musik vom West-Radio auf, als "DJ Emil" brachte er sie in die Karl-Marx-Städter Jugendclubs.
Für die dortige Musik gab es eigentlich die staatliche "60:40"-Regelung: mindestens 60 Prozent Ost-Musik, höchstens 40 Prozent West-Musik. "Aber im Normalfall war das Verhältnis 0:100", erinnert sich Peer Ehmke. Und da die West-Musik nicht so leicht zu bekommen war, hatte sie einen ganz besonderen Wert.
In der damaligen Jugend war schon lange vor 1989 eine "Wende" spürbar: Anfang der 1980er tauchten die ersten Punks in Karl-Marx-Stadt auf, HipHopper machten Breakdance auf dem Theaterplatz, die Kunstszene wurde mutiger.
"Mit der Regierung ging's bergab, mit der Kultur ging's bergauf", sagt Peer Ehmke. In den Jugendclubs habe eine ganz besondere Atmosphäre geherrscht: "Wenn alles geklappt hat, war es ein kollektives Rauscherlebnis. Man ist für ein paar Stunden in eine andere Welt eingetaucht."
Nach der Wende entstanden neue Musik- und Kultur-Hotspots in Chemnitz
Doch während die neuen Subkulturen anfangs noch zusammen feierten, kam es im Verlauf der 1980er immer öfter zum Streit. Auch die ersten Neonazis im Skinhead-Look traten auf die Bildfläche.
Nach der Wiedervereinigung verloren die Jugendclubs an Bedeutung, dafür entstanden neue Musik- und Kultur-Hotspots wie das "Voxxx" auf dem Kaßberg oder der Techno-Club "Achtermai" in Siegmar, die Jugend feierte in leerstehenden Fabrikhallen.
"Wir wollten die neue Freiheit ausleben", sagt Peer Ehmke. Einen Abschied von der DDR-Kultur bedeutete das nicht: Denn nach der Wende wurde die einst verpönte DDR-Musik plötzlich "in".
Und Peer Ehmke nannte sich dann nicht mehr "DJ", sondern "Schallplattenunterhalter".
Hier gibt's die anderen Teile der TAG24-Serie zum Nachlesen
- Legendär! Im Karl-Marx-Städter "Waschhaus" wurden bis zur Wende wilde Partys gefeiert
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Titelfoto: Sven Gleisberg, Dieter Wuschanski