Chemnitz - Vom Elefanten, der täglich seine Gemüsefuhre durch die Annaberger Straße zog ... Diese unglaubliche Geschichte kursierte über Jahrzehnte zwischen Altchemnitz und Harthau. Sattlermeister Robert Grötzschel (54) fand den Beweis, dass diese Chemnitzer Legende wahr ist.
Der Handwerker betreibt die Sattlerei in der Annaberger Straße schon in vierter Generation.
"Mein Vater erzählte, dass er als Kind neben der Werkstatt stand und den Elefanten bestaunte, der dort 1944 regelmäßig vorbeikam, mit einem Karren voll Gemüse von der Markthalle. Sein indischer Dompteur machte mit ihm am Tante-Emma-Laden neben der Sattlerei Rast und kaufte ein Brot, das der Elefant umgehend verspeiste", erzählt Robert Grötzschel. "Dabei schubberte er sich gern an der Dachrinne."
Der Dickhäuter übernahm auch Transporte für die Auto Union von der Scheffel- in die Schneeberger Straße. Grötzschel: "Kisten mit Fahrzeugteilen waren auf einem Ziehblech gestapelt, das mit Mordsgetöse übers Kopfsteinpflaster ratterte. Alle Pferdefuhrwerke suchten das Weite."
Der Autosattler erzählte die elefantastische Geschichte ab und zu oldtimerbegeisterten Kunden: "Die meisten glaubten mir kein Wort."
Wie der Elefant nach Chemnitz kam
Grötzschel begab sich auf Spurensuche und hatte Erfolg: In der Annaberger Straße gab es die Schneiderei Emmerling.
"Vor der Werkstatt entstand ein Foto, auf dem der Bruder des Schneidermeisters hinter dem Dompteur Dana Singh Platz genommen hat."
Das Foto befand sich im Familienarchiv von Tanzschulgründer Walter Emmerling (1937-2015), der die Schneiderei selbst bis 1975 betrieben hatte.
So klärte sich auch, wie der Elefant nach Chemnitz kam: Der Zirkus Busch hatte in der Annaberger Straße ein Notquartier aufgeschlagen. Weil an Auftritte in Kriegszeiten nicht zu denken war, verdiente der Elefant sein "Brot" als Zugtier.
Kurz vor Kriegsende fand der Zirkus hier Asyl
Im Herbst 1944 gab es in Chemnitz nicht nur einen Elefanten, weiß der Berliner Zirkus-Historiker Dietmar Winkler (79) zu berichten: "Das Tier gehörte sicher zur Elefantengruppe von Jacob Busch, dessen Quartier in Magdeburg im September 1944 ausgebombt worden war."
Jacob Busch fand im Chemnitzer Centraltheater an der Zwickauer Straße eine Ausweichmöglichkeit. Obwohl zu dieser Zeit alle Kulturveranstaltungen eingestellt wurden, durften einige Zirkusse in ihren Festbauten weiterspielen. "Belegt sind monatlich wechselnde Vorstellungen bis Februar 1945", so Dietmar Winkler. Eine Ziegelei in Altchemnitz diente den Tierdressuren als Unterkunft. "Pferde, Elefanten und Exoten waren im Ringofen untergebracht, auf dem Gelände standen die Wagen einer Raubtierdressur."
Beim Bombenangriff am 5. März wurde das Centraltheater, das sich gegenüber dem heutigen Metropolkino befand, zerstört. Auch das Ausweichquartier in der Ziegelei wurde getroffen.
"Die Menschen und Tiere im Ringofen überlebten", weiß Dietmar Winkler, der dieses Kapitel der Zirkus-Geschichte in seiner Dokumentation "Cirkus Jacob Busch - Der Zirkus unter Wasser" beschreibt.
Aus dem Zirkus wurde später der DDR-Staatszirkus, dessen Pressechef Dietmar Winkler lange Jahre war.