Ein Hauch Bohème im Schatten des Rathauses: In der "Galerie Oben" traf sich die Kunst-Szene
Chemnitz - Karl-Marx-Stadt der 1980er ging es auch in der Kunst-Szene hoch her. Wichtigster Anlaufpunkt: die "Galerie Oben" in der Innenstadt. Dort trafen sich junge Kreative wie die Künstlergruppe "Clara Mosch", die im Malen wie im Leben die Grenzen des Möglichen ausreizten. Was sie nicht wussten: Der vermeintliche Freiraum war längst von der Stasi infiltriert. Der Künstler Joerg Waehner (59) gehörte zu den jungen Wilden - und wurde dafür auf offener Straße verhaftet.
Karl-Marx-Stadt war weit weg von Kultur-Hochburgen wie Ost-Berlin oder Dresden. Doch gerade diese Unscheinbarkeit geriet der hiesigen Kunst-Szene zum Vorteil: "In Karl-Marx-Stadt war viel mehr möglich", erinnert sich Joerg Waehner.
Die Zentrale der kreativen Freigeister war die 1973 gegründete "Galerie Oben". "Die Galerie Oben war einer der wenigen Lichtblicke", sagt Joerg Waehner.
Der junge Künstler arbeitete in den frühen 80er-Jahren tagsüber in einer privaten Druckerei, nachts saß er an seinen ersten literarischen und künstlerischen Werken. Sein allwöchentliches Highlight waren die Mittwochsveranstaltungen in der "Galerie Oben".
Dort stellten aufregende junge Karl-Marx-Städter Künstler wie Thomas Ranft (heute 76) ihre Werke aus, es gab Vorträge über zeitgenössische westliche Künstler wie Joseph Beuys (1921-1986).
1982 wurde Waehner von der Stasi verhaftet
Danach gingen die Galerie-Besucher ins Künstlercafé "Martha" am Rosenhof oder den "Klub der Intelligenz 'Pablo Neruda'" in der Stadthalle. "Es war ein kleines, wohltemperiertes Bohème-Leben", sagt Joerg Waehner.
Doch das kleine Künstler-Idyll war nicht von Dauer. Jeder wusste, dass die Stasi ihre Spitzel in diese kleinen Freiräume schickte. Es habe immer eine Atmosphäre des Misstrauens geherrscht, sagt Joerg Waehner. Doch keiner wollte sein direktes Umfeld verdächtigen: "Für uns war klar, dass es immer nur die anderen sind. Wir fühlten uns ziemlich sicher in unserer Gemeinschaft."
Doch dann, im Jahr 1982, wurde Joerg Waehner mitten auf der Limbacher Straße, Ecke Barbarossastraße, verhaftet. Die Stasi schleppte ihn zum Verhör, warf ihm Fluchtpläne in den Westen vor. Er konnte die Anschuldigungen widerlegen, wurde aber zur Armee eingezogen - um ihn aus seinem Umfeld zu isolieren. Erst nach der Wende wurde bekannt, dass der einflussreiche Kunstsammler Georg Brühl (1931-2009) - zeitweiliger Sekretär der Galerie - jahrelang als IM gearbeitet hatte.
Joerg Waehner flüchtete schließlich im Jahr 1986 aus dem engen Karl-Marx-Stadt ins große Berlin. Er machte sich in der Kunstszene vom Prenzlauer Berg einen Namen, wo er noch heute erfolgreich als Künstler und Schriftsteller arbeitet.
Trotz allem behält er den legendären Karl-Marx-Städter Kreativen-Treff gut in Erinnerung: "Die Galerie Oben hat mir geholfen, den Alltag zu überstehen."
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Titelfoto: Lindenau-Museum Altenburg/Ralf-Rainer Wasse, Joerg Waehner