Der letzte Mauer-Flüchtling der DDR: Chemnitzer erinnert sich an die Momente, die sein Leben veränderten
Chemnitz - 30 Jahre deutsche Einheit - für den Chemnitzer Berufsschullehrer Hans-Peter Spitzner (66) ein besonderes Ereignis. Er war der letzte Mauer-Flüchtling der DDR. Im August 1989, drei Monate vor dem Fall der Mauer, floh Spitzner mit seiner Tochter Peggy (damals 7) im Kofferraum eines amerikanischen Soldaten von Ostberlin in den Westen.
Der gebürtige Crimmitschauer erinnert sich noch an jedes Detail. "Meine Frau Ingrid und ich waren schon lange unzufrieden, wollten Meinungsfreiheit und reisen."
Im August 1989 durfte Ingrid Spitzner (heute 64) ihre Mutter im Westen besuchen. Da las der Lehrer einen Bericht in der Jugendzeitung "Junge Welt". Es ging um alliierte Soldaten, die sich in Ostberlin den Kofferraum mit DDR-Waren füllen und unkontrolliert über den Checkpoint Charly schaffen.
Unkontrolliert! Spitzner nahm seine Tochter und fuhr am 16. August 1989 im Wartburg in die Hauptstadt. "Ich wollte einen Soldaten überreden, uns im Kofferraum in den Westen zu schleusen." Ein verrückter Plan, Fluchthilfe war strikt verboten.
Spitzner fragte zwei Tage lang rund 20 Briten, Franzosen und Amerikaner, ob sie ... alle lehnten ab. "Ich wollte am 18. August schon aufgeben", erinnert sich der Lehrer. Da stand neben seinem Wartburg in der Karl-Marx-Allee ein Toyota Camry mit US-Kennzeichen. Ein letzter Versuch.
"Ich schilderte dem Fahrer meine Lage, sagte: Sie sind meine letzte Chance." Der Ami stieg aus, betrachtete die schlafende Tochter im Wartburg. Dann fiel der Satz, den Spitzner nie vergessen wird: "Okay, I'll do it (ich werde es tun)."
Hans-Peter Spitzner lotste den Helfer in den Treptower Park. Die kleine Peggy war halb eingeweiht ("Wir besuchen heimlich Deine Mutter"), stieg mit Papa in den Kofferraum des Toyota.
25 Minuten fuhr der Amerikaner. Dann der Stopp, Autoradio aus. Checkpoint Charly. Todesangst. Der Wagen fuhr wieder an.
Eric Yaw, so hieß der Soldat, fuhr die Flüchtlinge ins Aufnahmelager Marienfelde - und beichtete seine "Tat". Eric Yaw kam mit einem Verweis davon. Und die US-Militärpolizei verhörte Spitzner.
"Der Freistaat braucht mich"
Das lief glatt. Aber was war mit Ehefrau Ingrid? Sie wollte zwei Tage später zurück in die DDR. Hans-Peter Spitzner wusste nur, dass sie in einer Pension in Berchtesgaden wohnte. Anruf, sie war nicht da. "Ich diktierte der Rezeption einen Zettel: ,Ingrid, fahre auf keinen Fall in die DDR zurück!'"
Zum Glück erreichte der SOS-Ruf die Frau. Sie zogen nach Idar-Oberstein, kehrten 1994 nach Chemnitz zurück. Hier arbeitet Hans-Peter Spitzner im Ruhestand noch als Lehrer an zwei Berufsschulen.
"Der Freistaat braucht mich", sagt der einstige DDR-Dissident, der im vereinten Deutschland glücklich angekommen ist.
Seine Fluchtgeschichte schrieb der Chemnitzer im Buch "Die Nadel im Ozean" auf. Zudem wurde sein Abenteuer verfilmt. "Die Entscheidung" läuft im November im Clubkino Siegmar.
Titelfoto: Kristin Schmidt