Tödliche Messerstecherei in Chemnitz: Das ist das Urteil im Fall Daniel H.
Chemnitz/Dresden - Im Prozess um die tödliche Messerstecherei in Chemnitz im August 2018 ist das Urteil gefallen.
Alaa S. wurde zu einer Haftstrafe von 9 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Das Landgericht Chemnitz sprach den Syrer am Donnerstag in Dresden wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung schuldig.
Die Verteidigung hatte einen Freispruch für den angeklagten 24-Jährigen gefordert. Sie verlangte am Donnerstag vor dem Landgericht Chemnitz zudem die Aufhebung des Haftbefehls und eine Haftentschädigung für den Mann, der seit knapp einem Jahr in Untersuchungshaft sitzt.
Es gebe keinerlei Beweise dafür, dass der Syrer am 26. August 2018 am Rande eines Stadtfests in Chemnitz gemeinsam mit einem flüchtigen Iraker einen 35-jährigen Deutschen mit Messerstichen getötet und einen weiteren Mann schwer verletzt habe, argumentierte die Verteidigung in einem Gebäude des Oberlandesgerichtes Dresden, wo der Prozess aus Sicherheitsgründen stattfand.
Der Angeklagte sprach sich in seinem letzten Wort für ein faires Urteil aus. "Ich kann nur hoffen, dass hier die Wahrheit ans Licht gebracht wird und ein gerechtes Urteil gesprochen wird", ließ der Syrer durch einen Dolmetscher übersetzen. Er hoffe nicht, das zweite Opfer des eigentlichen Täters zu werden; das erste Opfer sei der getötete Daniel H. "Ich möchte nicht das zweite Opfer sein, indem ich für ihn bestraft werde. Das ist meine einzige Hoffnung."
Die Staatsanwaltschaft hatte am Montag in ihrem Plädoyer eine Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren für den Angeklagten wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung gefordert. Die drei Vertreter der Nebenklage gingen am Donnerstag in ihren Plädoyers über diesen Antrag hinaus und forderten eine Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren.
Der unerwartet zeitige Richterspruch - immerhin sind Termine bis Ende Oktober festgelegt gewesen - wurde mit Spannung erwartet. Der Prozess war im März gestartet. Nach 18 Verhandlungstagen und der abgeschlossenen Beweisaufnahme hatte Staatsanwalt Stephan Butzkies in seinem Plädoyer eine Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren gefordert (TAG24 berichtete).
In der Nacht zum 26. August 2018 war es am Rand des Stadtfestgeländes zu der tödlichen Messerstecherei gekommen. Alaa S. soll den Chemnitzer Daniel H. gemeinsam mit einem Iraker, der sich auf der Flucht befindet und nach dem weltweit gesucht wird, erstochen und einen weiteren Mann schwer verletzt haben.
Nach Aussagen der rechtsmedizinischen Gutachterin hatte das Opfer, Daniel H. in der Tatnacht keine Überlebenschance. Von den fünf Stichen hätten einer das Herz und einer die Lunge durchstochen, sagte die Sachverständige vor Gericht.
Statement der Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig
"Es gibt ein Urteil – das haben wir alle zu respektieren - ich auch - weil wir alle in einem Rechtsstaat leben.
Wie hat sich Chemnitz in diesem Jahr verändert? Das Verbrechen und die Ereignisse danach haben viele Chemnitzer betroffen gemacht. Die plötzliche überregionale Aufmerksamkeit - fokussiert auf die Bilder vor dem Karl-Marx-Kopf - haben unserer Stadt sehr geschadet. Gräben zwischen sehr unterschiedlichen politischen Meinungen sind auf Straßen und Plätzen öffentlicher als vorher geworden. Chemnitz war eine Mischung aus Traurigkeit und Angst - aber auch aus Aufstehen und Mut.
Meine Aufgabe ist es, im Wissen um die Probleme gemeinsam mit vielen Chemnitzern zu zeigen, das Chemnitz mehr ist. Es gibt ein sehr engagiertes Eintreten von Bürgern für ein vielfältiges Chemnitz. Das war bereits in den vergangenen Monaten sichtbar. Und am Wochenende ist das Bürgerfest ein starkes Signal."
Anwälten Ricarda Lang greift das Gericht scharf an: "Trauriger Tag für den Rechtsstaat"
Update 16.53 Uhr: Die Anwältin von Alaa S., Ricarda Lang, sagte nach der Urteilsverkündung, dass das Gericht "nicht unbeeinflusst" gewesen sei von den politischen Verhältnissen in Chemnitz.
"Ich bin auch davon überzeugt, wenn dieses Verfahren bei einem anderen Gericht stattgefunden hätte, wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, Hamburg oder wo auch immer, in einem anderen Bundesland, in einer anderen Stadt, dass es niemals zu einer Verurteilung gekommen wäre.", so die Verteidigerin, die das Urteil anschließend als "traurigen Tag für den Rechtsstaat" betitelte.
Update 15 Uhr: Zum Urteil wird die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) um 17 Uhr ein Statement abgeben.
Update 14.55 Uhr: Die Verteidigung hat bereits Revision eingelegt.
Die Folgen des Verbrechens für Chemnitz
Weit mehr als das Verbrechen selbst haben die Folgen national wie international ein Schlaglicht auf Chemnitz geworfen. Schon am 26. August 2018 mobilisieren Fußball-Hooligans und Neonazis rund 1000 Menschen zu einer Spontan-Demo. Dabei kommt es zu fremdenfeindlichen Übergriffen, an denen sich später der Streit in Landes- und Bundespolitik über "Hetzjagden" entzünden wird. Aus Sicherheitsgründen wird das Stadtfest vorzeitig beendet.
Einen Tag darauf organisiert erstmals die rechtsextremistische Bewegung Pro Chemnitz am Marx-Monument eine Demonstration mit rund 6000 Teilnehmern. Bei einer Gegendemo waren rund 1500 Menschen dabei. Die Polizei war an diesem Tag nur mit knapp 600 Kräften im Einsatz. Nur mit Glück und Mühe wird eine Eskalation verhindert. Am 1. September kommt es zu einer weiteren Großdemo mit insgesamt rund 8000 Teilnehmern.
Chemnitz wehrt sich gegen das dadurch entstandene braune Image. Die Chemnitzer Band Kraftklub stellt binnen weniger Tage das #wirsindmehr-Konzert auf die Beine. 65.000 Menschen feiern am 3. September die Auftritte unter anderem der Toten Hosen, Kraftklub und Feine Sahne Fischfilet.
Die Stadt kommt trotzdem lange nicht zur Ruhe. Zwischenzeitlich wird ein ehemals Tatverdächtiger mangels dringenden Tatverdachts aus der Untersuchungshaft entlassen. Sein Haftbefehl war zuvor im Internet verbreitet worden - der dafür verantwortliche Justizbeamte wurde suspendiert. Bis Ende 2018 gibt es auch mehrere Angriffen auf ausländische Restaurants in Chemnitz, wie das jüdische Lokal "Schalom" und das türkische Restaurant "Mangal".
Zwölf Monate nach dem Tod von Daniel H. hat Chemnitz inzwischen weitgehend zur Normalität gefunden. An Stelle des Stadtfestes, das wegen des Negativ-Images für dieses Jahr abgesagt worden ist, findet am kommenden Wochenende ein Bürgerfest statt.
Am Sonntag könnte die Stimmung in Chemnitz allerdings wieder hochkochen: Die vom sächsischen Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte Bewegung Pro Chemnitz hat dann zu einer Kundgebung aufgerufen.