Abgesang auf die DDR: "Das Narrenschiff" - der neue Roman von Christoph Hein

Berlin - Christoph Hein (80) ist literarischer Chronist deutscher Zeitgeschichte, besonders jener der DDR. Auch sein neues Buch, mehr noch als die Bücher zuvor, handelt von der DDR, wobei der Autor schon im Titel einen Hinweis gibt, was er vom sozialistischen Staat hält. "Das Narrenschiff" heißt der Roman.

Schriftsteller Christoph Hein (80), geboren am 8. April 1944 in Oberschlesien.
Schriftsteller Christoph Hein (80), geboren am 8. April 1944 in Oberschlesien.  © epd-bild/Jens Schulze

Tatsächlich umfasst das 750 Seiten dicke Buch die ganze DDR, soweit es ihre Dauer betrifft. Von der Gründung bis zum Ende streckt sich der dramaturgische Bogen. Inhaltlich geht es um eine Gruppe von Personen, die unterschiedlich in die DDR hineinwachsen, mit ihrer Gründung verwoben sind, zu Funktionsträgern werden und die herrschenden Verhältnisse in einer Mischung aus Überzeugung und Opportunismus stützen, verteidigen oder wenigstens akzeptieren.

Es sind der Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied des Zentralkomitees Karsten Emser und dessen Ehefrau Rita; der frühere Nazi und nun gewendete Kommunist Johannes Goretzka - ein verbitterter Kriegskrüppel, der die junge Mutter Yvonne heiratet, die von einem im Krieg verschollenen Juden eine Tochter, Kathinka, hat; der schwule Literaturwissenschaftler Benaja Kuckuck, der nach dem Krieg widerwillig in der DDR bleibt, weil er ob seiner linken Vergangenheit im Westen beruflich keine Chance hat, und mit Yvonne bei der Hauptverwaltung Film die Leitung des Referats Kinder- und Jugendfilm übernimmt.

Freundschaftlich sind sie sich verbunden, treffen sich zum Essen, beratschlagen und diskutieren ihr Leben, lieben und betrügen sich.

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All das geschieht auf der Folie prägnanter zeitgeschichtlicher Ereignisse, als da sind Stalinismus, die Abkehr von Stalin nach dessen Tod, die Aufstände in der DDR (1953), Ungarn (1956) und der Tschechoslowakei (1968), der Mauerbau, Ulbrichts Ablösung durch Honecker, die Zeiten wachsender Strenge und größeren Muts, wie Staat und Gesellschaft auf Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion reagieren, und Mauerfall.

Wird der Roman verfilmt?

Das Buch, erschienen bei Suhrkamp für 28 Euro.
Das Buch, erschienen bei Suhrkamp für 28 Euro.  © Suhrkamp

Hein erzählt von seinen Protagonisten und einer Reihe anderer Figuren über drei Generationen bis zum bitteren Ende, nüchtern im Erzählton, genau in der Beobachtung, nicht wertend, doch einfühlsam, dabei ohne Zweifel in der Haltung: Eine Chance zu überleben, gab es für die DDR nicht. Der real existierende Sozialismus? Eine Narretei.

Im Blick auf den Roman ist die Auseinandersetzung um Florian Henkel von Donnersmarcks DDR-Film "Das Leben der Anderen" (2006) interessant, in die Hein involviert war. Inspiriert von einem Gespräch mit Hein, hatte Donnersmarck seine Filmfigur, einen Autor im Fadenkreuz der Stasi während der späten achtziger Jahre, entworfen. Hein distanzierte sich und verwarf den Film.

Dieser beschreibe "nicht die Achtzigerjahre in der DDR", schon gar nicht sein eigenes Leben, vielmehr sei der Film "ein Gruselmärchen, das in einem sagenhaften Land spielt, vergleichbar mit Tolkiens Mittelerde", so Hein 2019 in der Süddeutschen Zeitung. Am Ende heißt es dort in einem Passus ironischer Resignation: "Der Film wurde ein Welterfolg. Es ist aussichtslos für mich, meine Lebensgeschichte dagegensetzen zu wollen."

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Aussichtslos, wirklich? Nicht dass es des Streits um den Film für das neue Buch zwingend bedurft hätte, dennoch wirken Stil und Darstellungsweise des Romans auch wie eine Reaktion auf das Missbehagen bezüglich Donnersmarck. Gleichwohl Hein eine der Figuren gemäß eigener Lebensgeschichte entwirft - ein renitenter Theologensohn, dem vom Staat das Studium verweigert wird -, ist "Das Narrenschiff" keine Autobiografie.

Wohl aber ist es eine höchstwahrscheinlich realistische Darstellung des Lebens in der DDR aus der - ungewohnten - Perspektive systemkonformer Funktionäre und Bürger. Narren allesamt nach seiner Lesart, doch macht Hein sich nicht lustig über sie, ihre Hoffnungen, Verbohrtheiten, Enttäuschungen.

Ein Buch, wie es noch keines gab, allein das macht es lesenswert. "Nichts von diesem trüben Wahnsinn lässt sich retten", heißt es in Jerzy Andrzejewskis "Finsternis bedeckt die Erde" (1961), einem Gleichnis auf den Stalinismus in Polen: Heins "Narrenschiff" ist Abgesang auf die DDR und Eingeständnis ihrer Aussichtslosigkeit von Beginn an.

Ein wichtiges Buch, Verfilmung - wer weiß? - nicht ausgeschlossen.

Titelfoto: Bildmontage: Suhrkamp, epd-bild/Jens Schulze

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